Streiks in Frankreich Sozialisten unter Druck

Französische Gewerkschaften streiken in geschlossener Front / 80.000 auf der Straße / Öffentliche Verkehrsmittel und Stromversorgung lahmgelegt / Schulen geschlossen  ■  Aus Paris Georg Blume

Den Franzosen fehlen die Worte: Erstmals seit schwer zu schätzender Zeit demonstrierten gestern die großen französischen Gewerkschaften wieder in geschlossener Front in Paris. Über viele Jahre nicht erfüllte Lohnforderungen stehen an, denen die frischgewählte sozialistische Regierung endlich Gehör schenken soll. Wie lange schon hatte Paris so etwas nicht mehr gesehen? „Seit dem 1.Mai vor fünf Jahren,“ meint Postgewerkschaftssekretär Pascal. „Seit dem letzten heißen Herbst 1980“, bestreitet sein Kollege. „Vielleicht seit 68“, meldet der staatliche Rundfunksender France Inter. Nach Angaben der Organisatoren demonstrierten über 80.000.

Während des gesamten gestrigen Tages hatten die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes zum Streik aufgerufen. Schon am frühen Morgen stauten sich die Autos bis 200 Kilometer vor Paris: Nur die Hälfte der Züge im ganzen Land fuhren, in Paris brach der öffentliche Verkehr zusammen, die Post verteilte keine Briefe, die Telefonleitungen waren „momentan“ unterbrochen. Viele Schulen blieben gestern in Frankreich geschlossen, und auch die Stromversorgung wollte nicht wie an anderen Tagen klappen. Der Streikerfolg war nicht zu bestreiten.

Noch in den letzten Tagen hatten vor allem die französischen Krankenschwestern im Rampenlicht gestanden, die bereits seit drei Wochen die Arbeit niedergelegt haben. Erst als ihre Forderungen großen Rückhalt in der französischen Öffentlichkeit fanden, wagten die etablierten Gewerkschaften - kommunistische CGT, sozialistische CFDT und die konservative „Force Ouvriere“ - gemeinsam mit den Gewerkschaften einzelner Berufsgruppen den Streikaufruf.

Doch hatte bis vor wenigen Tagen niemand mit einer gewerkschaftlichen Einheitsfront gerechnet.

Ähnlich wie der oft beschworene Niedergang der Kommunistischen Partei schien die Apathie der Gewerkschaften für viele Gesellschaftsbeobachter in Frankreich als eine „Errungenschaft der achtziger Jahre“ festgeschrieben. Die ungewohnte Einheitsfront der Gewerkschaften bringt nun vor allem Premierminister Rocard ins Gedränge. Rocard, der erst im Mai nach den Präsidentschaftswahlen sein Amt antrat und mit einer Minderheitsregierung auskommen muß, hat sich das plötzliche Aufwallen des Arbeiterunmuts ein Stück weit selbst zuzuschreiben. Noch im September gelang es einzelnen Berufgruppen (Polizisten, Gefängniswärter, Flughafenpersonal u.a.) mit nur begrenzten Protestaktionen relativ günstige Lohnabschlüsse mit der Regierung auszuhandeln. Was wenige bekamen, wird nun von allen gefordert. Rocard aber bleibt bisher stur: Eine zweiprozentige Lohnerhöhung für den gesamten öffentlichen Dienst und keinen Pfennig mehr, lautet sein bisheriges Angebot.

„Es ist nicht alles sofort möglich“, verkündete Wirtschaftsminister Beregovoy am Wochenende das derzeitige Regierungscredo. Rocard und Beregovoy verweisen dabei auf die wirtschaftlichen Eckdaten des Landes (Wachstum, Arbeitslosigkeit, Außenhandelsbilanz, Inflation), deren leichte Verbesserung in den letzten Monaten zwar für die Zukunft vielversprechend, doch im Moment für größere Gehaltsausschüttungen unzureichend sei. Fortsetzung auf Seite 2

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Hinter der Regierung aber gerät die sozialistische Partei ins Wanken. Angriffe auf den unter Mitgliedern unbeliebten Rocard sind für viele Parteikollegen kein Tabu mehr. „Wenn auch nicht alles sofort möglich ist, so muß die Regierung doch das Nötige tun, damit das, was möglich ist, geschieht,“ lehrte der ehemalige Premierminister und heutige sozialistische Parteichef Mauroy von der Kanzel der Nationalversammlung. Dort hat gerade in dieser Woche die Haushaltsdebatte '89 begonnen, mit der Rocard seine erste große innerparteiliche Bestandsprobe erwartet. Denn die Sozialisten sind besorgt, weil derzeit vor allem ihre Wähler demonstrieren. Sie haben in diesem Jahr der Partei noch die Treue gehalten, doch im nächsten Frühling sind wieder Gemeindewahlen.