Aufgeblühter Tochtermarkt

■ „Der Marktplatz“ - bebilderte Geschichte des Bremerhavener Stadtmittelpunkts geschrieben von dem Bremerhavener Manfred Ernst / Rezension vom Bremerhavener Hans Happel

Der Bremerhavener Rechtsanwalt Manfred Ernst gehört seit einigen Jahren zu den wichtigsten Chronisten der jüngeren Stadtgeschichte, deren weiße, besser: dunkle Flecken er bevorzugt bearbeitet. So entstanden Untersuchungen über die Zwangsarbeiterlager und lokale Widerstandsgruppen im Faschismus. Seine Mutter habe ihn eines Tages aufgefordert, „doch mal was Nettes“ zu schreiben, gesteht er im Vorwort zu seinem neuen Buch „Der Marktplatz“. Wie nett ist „Der Marktplatz“? Erzählt - und üppig bebildert - wird die Stadtgeschichte im Zentrum Bremerhavens in zwei Durchgängen: Als Geschichte des Platzes vom althergebrachten Marktleben bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, und als Geschichte seiner ehemaligen Häuser und ihrer Bewohner. Der Autor will das „alte Bremerhaven“ lebendig machen, in der der Marktplatz noch geschäftiges Zentrum war und nicht, wie heute, ein trister Flecken, der auch durch gutgemeinte Restaurierungsversuche seinen vergangenen Charme nicht wiedererhält.

Einen Marktplatz gestand der Bremer Senat der „aufblühenden Tochterstadt“ erst 1842 zu. Zunächst ein „wüster, die Umgebung verunzierender Platz“, noch 1861 mit Gras bewachsen und von „ein paar erbärmlichen Öllampen erleuchtet“, erhielt der Platz vor genau hundert Jahren ein teures Pflaster („Iron-Bricks“ aus England) und sein zentrales Denkmal: Seit 1888 blickt Johann Smidt, der Stadtvater und Bremer Bürgermeister, auf den Marktplatz herab. Die Bremerhavener wollten ihm schon zu Lebzeiten ein Denkmal setzen. Er verbat es sich, sie sangen ihm statt dessen Hymnen („Erhalt ihn Gott, den heißgeliebten Mann“). Manfred

Ernst rekapituliert erzählend zentrale Ereignisse, die sich auf dem Platz abgespielt haben: Demonstrationen im Revolutionsjahr 1848, die erste Pferdebahn, der erste Mai -Aufmarsch 1891, die aufwendige Jahrhundertfeier 1927, gegen die die KPD im Interesse der „hungernden Proleten“ vergeblich protestierte. Die Geschichte des Platzes endet mit der Zeit des Nationalsozialismus. Die Bücherverbrennung wurde von einem Journalisten in der Bremerhavener „Nordwestdeutschen Zeitung“ so kommentiert: „Die Zuschauermassen verliefen sich, und still und einsam stand wieder das Denkmal des Bürgermeisters Smidt da. Und es schien, als ob um seine ruhigen Züge ein zufriedenes Lächeln spielt. Er, der früher zu seinen Füßen die rote Flut hatte branden sehen, erlebte voller Genugtuung diese Tat und ihre Männer.“

Ernsts Buch ist eine Revue der Stadtgeschichte, es lebt von der Anschaulichkeit seines bunt zusammengewürfelten Materials. Der Autor reklamiert für sich keine Wissenschaftlichkeit, ebensowenig will er bürgerliches Kleinstadtleben feiern. Die Gratwanderung zwischen nostalgischem und kritischem Blick zurück wird schwierig, wo es um die Geschichte der Häuser am Marktplatz und ihrer Bewohner geht. Ernst erzählt von Hoteliers und ihren illustren Gästen, vom Friseur, Bäcker, Schlachtermeister, von Kutscher-Kneipe und Zigarrengeschäft. Daß diese mit Namen und Einzelheiten etwas überfrachteten Teile mehr sind als brave Geschichten aus dem Familienalbum, dafür stehen nicht nur manche komische Episoden und Figuren, sondern vor allem die feinen Gegen-Striche im Bild der ordentlichen Bürgerwelt am Marktplatz. Ernst berichtet von

der NSDAP-Gründung in „Herrmanns Hotel“, vom jüdischen Arzt und vom Kaufhausbesitzer, die frühzeitig aus der Stadt flüchten.

Nein, Manfred Ernsts Buch ist keineswegs nur nett. Es ist kein Bericht von der schönen alten Zeit, zu nüchtern ist sein Blick auf die Bremerhavener Bürger, die sich gelegentlich unters Volk zu mischen wagten, wenn auf dem Marktplatz Freimarkt war. Der längst gestorbene Budenzauber des Volksfestes bildet die nostalgische Schlußnote des Buches.

Manfred Ernst: Der Marktplatz - Stadtgeschichte im Zentrum Bremerhavens seit 1827. Ditzen, Bremerhaven 1988, 39 DM.