LOKALTERMIN

Ich mußte mich für einige Zeit verkriechen, mich auf anderen Ebenen bewegen. Der Stoff wurde allmählich heiß. Ich hatte zu viele Freunde an meiner Euphorie teilnehmen lassen wollen und den HW-Mix wie Flugblätter verteilt. Jetzt rannten sie mir die Bude ein, und der Freundeskreis nahm das Ausmaß einer florierenden Sekte an. Also verschwand ich mit dem Stoff und trieb im Dunkeln rum.

Seit Stunden stierte ich auf den prallen Schmerbauch, der versuchte, durch den ranzigen Nicki zu stoßen. Sein Besitzer, eigentlich kein Objekt der Begierde, hockte am Tresen und lochte mit zwei gelben Zahnstumpen die Bratkartoffeln vom Teller. In mir regte sich der Magen, aber es war immer noch besser, als gegen die fettigen, dreckiggelben Wände zu starren. Meine Nase weinte. Sie war ja einiges gewohnt, aber die säurige Luft hier machte sie traurig. Urin, überall Urin. Urin am Bierglas, auf der weinroten Tischdecke, im Essen, an den Türgriffen, als Schleier der Verwesung. Durch den stieß jetzt ein Pärchen. Ihn erkannte ich sofort wieder, obwohl von seiner bärenstarken Matte nur noch ein paar fadenscheinige graue Drähte übrig waren, die in Todesstarre am Hinterkopf klebten. Ich erkannte ihn an seinen Armen. Sie stempelten ihn für alle Zeiten zum Idioten. Sie waren von oben bis unten tätowiert. Auch heute trug er sie offen. Auf dem linken stand in blassem Blau: Anarchie ist machbar. Auf dem rechten: In der Nachtbar. Der Idiot. Aber er wollte sich das nicht wegoperieren lassen. Zaun erkannte mich nicht. Wir hatten ihn Zaun genannt, weil er in seiner Pubertät immer mit einer Latte herumgelaufen war. Jetzt lief er mit seiner hilfsbedürftigen Begleiterin an mir vorbei. Ihr altbackener Bierschiß blieb noch etwas länger an meinem Tisch. Mein Magen verkrampfte sich zu einem Goldball. Aber schnell setzte sich der Urin in der Luft wieder durch. Ich nahm mir nun die Zeit, die Bilder an der Wand zu betrachten. Die gezeichneten Porträts einer Frau zeigten den Maler in allen Phasen der Allsheimer Krankheit. Das letzte Bild in der Reihe wurde von einem ausgeleierten Gummiband gefüllt.

Plötzlich stand Zaun vor mir. „Mann, ich glaub' mein Hamster bohnert! Der Ungläubige! Ich hab dich erst gar nicht wiedererkannt. Wie lange ist ds her, daß wir zusammen getrunken haben?“ Er kratzte sich auf dem Kopf, mußte aber nicht lange überlegen. Das Wesentliche hatte in seinem Gedächtnis immer schon Platz gehabt. „Das war, glaube ich 1981, als dir Gipsfuß den Krückstock ins Auge drückte. Trägst du deswegen immer noch die Sonnenbrille? Haha. Ungläubiger, was machst du hier?“ Ich machte, daß ich wegkam.

Nulpe, Yorckstraße 77, 1-61.

Thomas Böhm