Kultur für alle überall

■ „Kultur 90“ - eine Initiative der nordrhein-westfälischen Städte zur Umgestaltung des Ruhrpotts in eine totale und permanente Kulturveranstaltung

Ingeborg Braunert

Da beklagen, belächeln und analysieren unsere Intellektuellen seit Jahren „die neue Kulturseligkeit, die Ratsherren wie Alternative gleichermaßen ergreift, auch den Linken den Kopf verdreht“ (Konrad Baier) oder die „Selbstzerstörung der Kultur durch massenhaften Erfolg“ (Bazon Brock), da hetzen H.M. Enzensberger und Th. Bernhard jeder auf seine Weise gegen den Kulturbetrieb, von den älteren Ausführungen eines Benjamin oder Adorno ganz zu schweigen - und just jetzt, nach einem Sommer, der im Westen unserer Republik die Festivals, Jubiläen und Eröffnungen, die Gauklerei und Singerei auf den Straßen, das öffentliche Kinderschminken und Ausstellen von selbstgemachten Dekorationsstücken ins Unerträgliche anschwellen ließ, stellen die städtischen Verantwortlichen in Nordrhein -Westfalen fest, daß es immer noch zu wenig Kultur in unseren Städten gebe, daß die Kulturpolitik ins Zentrum der Kommunalpolitik gehöre und daß die „Kulturarbeit“, die sie schaffen, von der Politik nicht genügend gewürdigt sei.

Kulturämter aus 31 Rhein-, Ruhr- und Wupperstädten haben, angeregt und angeleitet vom „Sekretariat für gemeinsame Kulturarbeit“, einer Einrichtung des Landes Nordrhein -Westfalen in Wuppertal, drei Jahre lang gearbeitet, „einen Diskurs veranstaltet“ (so sagen sie) und die Ergebnisse vor einer Woche in Essen vorgestellt: mehrere Referate von Kulturdezernenten und ein unhandliches Handbuch von fast 400 Seiten im DIN A4-Format.

Kulturdezernenten in Nordrhein-Westfalen sind die Beamten in den kommunalen Verwaltungen, die stets etwas gestelzter als ihre Kollegen aus anderen Bereichen reden und, falls ihr eigener Wortschatz das nicht hergibt (denn die Posten in den Stadtverwaltungen werden nicht nach sachlicher Qualifikation, sondern nach Ochsentour, Karriereleiter und Parteienproporz vergeben), ihre Reden immer mit vielen Zitaten spicken, von Lessing bis Neil Postman, von Cicero bis Jacques Lang.

Auch an diesem Samstag in Essen wurde viele von Kant bis Kohl beschworen, um der Kultur in den Städten Aufgabe und Bedeutung zuzuschreiben: Kultur für Lebenssinn, Kreativität, Ökologie und Frieden - Kultur gegen Jugendarbeitslosigkeit, freudloses Rentnerdasein, Fernsehen und Technik aller Art. Ginge es hier nur um die Befriedigung von Profilierungssüchten und entbehrten Wir-Gefühlen von städtischen Kulturdezernenten an Rhein und Ruhr, so wäre es ihnen zwar zu gönnen (weil sie im Bürokratenalltag in dieser Hinsicht immer zu kurz kommen) und der Fall damit erledigt. Aber die Anachronismen sind zu augenfällig.

Kultur als Wirtschaftsfaktor und Standortvorteil, Freizeitgesellschaft und Erlebnisraum Stadt sind längst die Schlagworte der achtziger Jahre, mit denen sich die Städ te gegenseitig in harter Konkur renz zukunftsträchtige, Gewerbesteuer zahlende und Arbeitsplätze bietende Industrien anlocken und abwerben wollen. Sie investieren in der Hoffnung, daß die nächste Nixdorf-Filiale oder IBM-Niederlassung sich dort niederläßt, wo ihre sogenannten hochqualifizierten Mitarbeiter Oper und Philharmonie, ihre Ehefrauen Museen und Galerien und ihre Kinder Musikschulen und Tanzkurse auf möglichst hohem Niveau vorfinden. (Dazu ein Buchtip: Hrsg.: Agentur A.R.T.: Kultur macht Politik. Köln, Volksblatt-Verlag 1988, 230 Seiten, 28 Mark).

Der Tagungsort der „Kultur-90„-Veranstaltung war die Aalto -Oper, gerade vor zwei Wochen mit Richard Wagner und Richard von Weizsäcker eingeweiht und für die Stadt der Zechenschlie

ßungen und Stahlkrise neues Symbol des angestrebten Strukturwandels.

Wenn die Kulturdezernenten nun die dem französischen Nationalkulturminister Jacques Lang zugeschriebenen Worte „Kultur und Wirtschaft, derselbe Kampf!“ als Schlachtruf im Munde führen, machen sie sich eher zum Nachtrag als zur Avantgarde einer bereits allerorten stattfindenden Kulturpolitik.

Sie würden allerdings aufs heftigste widersprechen, ließe man hier den Eindruck (ent-)stehen, als ob sie mit ihrer „Kulturarbeit“ nur die Bedürfnisse jener Minderheiten von höheren Angestellten der High-Tech-Industrien und ihrer Familien beackern und beachten. Und da dies auch nicht beabsichtigt ist, sei ein längerer O-Ton aus der Abschlußresolution von „Kultur 90“ zitiert, die von Frau Dr. Iris Magdowski, Kulturdezernentin aus Bielefeld, vorgetragen wurde:

„Kultur ist nicht mehr nur ein Angebot einer kleinen Minderheit für eine kleine Minderheit, sondern Betätigung und Forderung breiter Gesellschaftsschichten. Längst wird ein verändertes Freizeitverständnis praktiziert: 'Man probt nicht mehr für die Aufführung, sondern für das Leben'; immer mehr Menschen betätigen sich musikalisch, handwerklich, durch Malen, Musizieren, Theaterspiel, Dichten und Tanzen; sozial-engagiert durch Nachbarschaftshilfen und soziale Dienste; erwerbsbezogen durch Selbsthilfearbeiten und gewerbliche Arbeit. Neben der repräsentativen, professionellen Kultur erweitert sich also das Feld für (alternative) Kultur mit neuen Aufgaben für die kommunale Kulturarbeit und mit neuen Forderungen an die Kulturfinanzierung und das Kulturmanagement.“

Hier operieren die „Kultur-90„-Experten nicht mit den Schlagworten der achtziger, sondern zur Abwechslung mal mit denen der siebziger Jahre: Kultur für alle, Mitmach- und Selbstmachkultur. Begriffe, mit denen die Sozialdemokratie, als sie an der Macht war, neue Teilhabe am Kuchen von Bildung und Kultur versprach. Die ideologische Absicherung pickte sie sich aus der 68er Erbmasse heraus: die Kritik am Mißbrauch der Kunst und Kultur zu Repräsentationszwecken. Und es fanden sich damals auch genug Sozialarbeiter, die als Multiplikatoren auftraten und sich stolz „Kulturarbeiter“ nannten: Die „Soziokultur“ wurde erfunden.

Diese wurde installiert in Stadtteilkulturzentren, wo alte Menschen wieder wie Kinder spielen und basteln sollten, wo man selbstgeschriebene Stücke aufführte und überhaupt viel Vulgärpsychologisches umsetzte, etwa in die Erkenntnis, daß das Glück des Menschen in der immerwährenden Kommunikation mit Gleichgesinnten bestehe. Immerhin wurden damals diese Aktivitäten noch in bewußtem Gegensatz zu der sogenannten Hochkultur, die sich in ihren Theater- und Museumspalästen abspielte, gestellt. Wobei der Gegensatz hoch - tief nicht einmal Höhenunterschiede des Geistes meinte, sondern rudimentär klassenkämpferisch angelegt war: Staatsoper, Stadttheater, Ausstellungseröffnung für und mit Brillanten und Sekt, Protestlied und Mitmachtheater für und mit Alltagskleidung und Bier.

Das hat sich heute nicht nur gewendet, sondern total verwischt. Und daran ist auch nicht die CDU schuld. In Nordrhein-Westfalen, das von der SPD mit absoluter Mehrheit regiert wird und wo auch die meisten Kommunen feste SPD -Erbhöfe sind, protestieren die Intendanten der subventionierten Stadttheater gegen jede Schließung eines freien Kulturzentrums, gastieren aus Solidarität dort und laden im Gegenzug Laientheater ein, auf den städtischen Bühnen aufzutreten. Sekt wird jetzt überall getrunken, notfalls aus Plastikwegwerfbechern. Und Repräsentation ist auch wieder in.

Jeder läppische Anlaß taugt zu einem Straßen- oder Volksfest, wo sich sogenannte Hoch- und Subkultur, Müslistände und kommerzielle Gastronomie einträchtig vermischen. Den Politikern aller Couleur ist das recht, denn sie halten solche Erscheinungen für den Vollzug jenes von ihnen angestrebten Strukturwandels, der aus dem Land der Kohlehalden, stillstehenden Fördertürme und Hochöfen die „Kulturlandschaft“, „Theaterlandschaft“ und „Museumslandschaft“ Nordrhein-Westfalen machen soll.

Die Manuskripte der Reden der Kulturdezernenten auf der Veranstaltung „Kultur 90“ wurden vorab verteilt. Im Text des Dr. Konrad Schilling (Kulturdezernent der Stadt Duisburg), der über „Kulturelle Bildung und Zielgruppenarbeit“ referierte, findet sich ein Tippfehler. Ziel der Kulturpolitik sei die Mündigkeit des Menschen, sagte er, geschrieben aber stand die Müdigkeit des Menschen.