Weder Durch- noch Aufbruch

Auch wenn man die Ohren weit aufreißt - den Mantel der Geschichte wird man nicht rauschen hören, wenn der Kanzler nachher in den Kreml einzieht. Mit Lust wird er inhalieren, daß sein Moskau-Besuch von einigen journalistischen Kammerdienern mit jenem Konrad Adenauers verglichen wird. Der hatte in seinen letzten Jahren entdeckt, daß die „Soffjets ein friedliebendes Volk“ seien. Das geriet bald in Vergessenheit.

Kohls Reise wird nicht „unmittelbar zu Gott“ sein, wie Leopold von Ranke große Geschichte gesehen hat. Mäkeln sollte man sich dennoch verkneifen. Eigentlich ist alles gut, beinahe alles, was die Tuchfühlung zwischen den Bundesdeutschen und den Russen enger werden läßt. Wenn die drei Milliarden, von der Deutschen Bank eingesammelt, die arbeitenden Frauen und Männer in der Sowjetunion mit Waren versorgen helfen und sie dann auch motivieren, bei der Perestroika Hand anzulegen, sollte nicht gemeckert werden.

Als Strauß vom lang ersehnten Gespräch mit Gorbatschow zurückkehrte, hörte man aus seiner Umgebung, der Russe, als er Kohl beim Staatsbegräbnis für Tschernjenko das erste Mal traf, habe die Unterhaltung nicht elektrisierend gefunden. Der Goebbelsvergleich im 'Newsweek'-Interview wird weder vergessen noch vergeben sein.

Doch soll es ja in den nächsten Tagen zwischen den beiden auch nicht zugehen wie zwischen Carlos und Marquis Posa. Es wird kein deutsch-sowjetisches Rest-Jahrhundert in die Schranken gefordert. Die Bühnenbildner haben dennoch eine große Kulisse aufgebaut. Die Sowjets haben dabei geholfen. Dem Bonner Kanzler werden nicht Immortellen gestreut, doch die Moskauer Zeitschrift 'Echo Planety‘ lobt ihn als „einen Menschen, der zweifellos an der Entwicklung der Beziehungen zwischen der BRD und der UdSSR interessiert ist“. Solche Menschen gibt es derweil viele. Es werden sogar immer mehr. Mit teutonischer Balalaika-Seligkeit hat das kaum zu tun. Der Russe, der große Gratwanderer, hat die Phantasie auch der deutschen Konservativen besetzt. Die von Genscher schon eine Weile früher. Für die Russen ist er nicht ein „slippery man“, wie ihn der Bonner US-Botschafter Richard Burt genannt haben soll. Die stört es auch nicht, daß der Außenminister ein großes Konzept bis heute verborgen hält. Sie respektieren, daß der Mann an den Grundlinien der Ostpolitik von Brandt festhält und das „gemeinsame europäische Haus“ möblieren helfen möchte. Das wird ihm positiv angekreidet. Kohl wird daraus Nutzen ziehen. Er weiß nur zu gut, daß er einen „ungeheuren Durchbruch“ nicht schaffen kann.

Die Sowjetführung, die durch ihre Sendboten zur CDU gern erzählen läßt (Sagladin, fast überschwenglich, vor Blüms NRW -Gefährten), daß die Sowjetunion und die Bundesrepublik die zwei wichtigsten europäischen Staaten seien, behält die Größenordnungen schon genau im Auge. Wichtig, sehr wichtig, das soll schon sein. Aber auch Walentin Falin, der „Germanist“, vom Generalsekretär zum Vorsteher der Internationalen Abteilung im ZK erhoben, wird Kohl und Gefolge nicht zu „Träumen an gesamtdeutschen Kaminen“ inspirieren wollen. Die „deutsche Karte“, die ein lange schon vergessener Unionsabgeordneter namens Friedman im Rockaufschlag von Gorbatschow blitzen sah, bleibt in der Ablage der III. Europäischen Abteilung am Smolenskorplatz. Kohl wird, eher weil es zur Liturgie gehört, von der Einheit der Nation reden. Gorbatschow wird, weil die Interessen der Sowjetunion gar nichts anderes gestatten, eher barsch reagieren. Denn sein dem Bundespräsidenten persönlich zugeeigneter tröstlicher Hinweis auf die Geschichte hat ihm nach Weizsäckers Moskau-Visite allerhand Irritationen beim DDR-Verbündeten eingebrockt.

Auch kein Aufbruch zu neuen Ufern, weil Gorbatschow selber noch nicht genau zu wissen scheint, wie die Innenarchitektur des gemeinsamen Hauses aussehen soll. Auch werden Zweifel bleiben, ob Genscher jene Berechenbarkeit der Bonner Regenten verbürgt, an der nicht bloß Gromyko und seine Mannschaft immer wieder meinten zweifeln zu müssen. Da möchten die Russen, wer will es ihnen verdenken, bald mal ein Stück Emanzipation der Kohl-Regierung von den Abrüstungsbremsern im Pentagon miterleben. Sie würden wohl auch gern wissen, ob die Partei des Kanzlers jenes hochgemute Gerede über die „Äquidistanz“ verabschiedet hat, die vor wenigen Jahren noch gleichsam als Todsünde an den „gemeinsamen Werten“ geächtet worden ist. Es genügte, wenn Kohl dem Gastgeber glaubhaft zu machen verstünde, daß in Sachen Ost- und Abrüstungspolitik eine Zensur durch die Amerikaner nicht mehr stattfindet. Die Sicherheitspartnerschaft, auf die beide Staaten lebensnotwendig angewiesen sind, muß ja nicht soweit gehen, daß Scholz - in Erinnerung an die Geheimabsprachen zwischen dem General von Seeckt und dem Marschall Tuchatschewski bei der Sowjetführung anfragt, ob er seine „Tieffliegerei“ vorübergehend in die Weiten des Sowjetreiches verlegen darf.

Klaus Bölling