Ein Kanzler im Kreml

■ Helmut Kohl im Lande der Borschtsch-Suppe

Eigentlich dürfte der Hauch der Geschichte nicht durch den Kreml ziehen, wenn der Wende-Kanzler heute auf den Umbau -Generalsekretär trifft. Zu spät nämlich ist Kohl auf den Zug der neuen Detente aufgesprungen. Beim Oggersheimer dauerte es etwas länger mit dem Neuen Denken. So sind auch die Mitbringsel im Kanzlerkoffer, vom Hochtemperaturreaktor bis zum Umweltschutzabkommen, keine Bußgeschenke für den Goebbels-Vergleich, sondern Zeugnisse altdeutschen Sendungsbewußtseins. Doch Gorbatschow kann es sich nicht leisten, nachtragend zu sein. Wird nur mit Hilfe des Markscheins der Besuch zum „Markstein der Beziehungen“?

Moskau (taz) - „500 Leute, die muß man erst mal wegstecken“, erklärt mir die Vertreterin eines bundesdeutschen Reisebüros in Moskau. Während der Mechaniker im Hotel „Intourist“ fieberhaft die Fernsehapparate für die erwarteten Journalisten repariert, treffe ich in der Halle des benachbarten „Rossija“ auf eine Art Karawanserei: Hier haben sich empörte Landsleute zu einem Sitzstreik niedergelassen, weil sie auf einer Reihe von Flußdampfern untergebracht werden sollen, die letzte Woche vorsorglich als Ausweichquartiere auf der Moskwa vor Anker gingen. Mein Argument, diese Schiffe seien für besonders gutes Essen und freundliches Personal bekannt, imponiert ihnen kaum. Diesmal ist es der Kohl-Besuch, der als willkommene Ausrede für die permanenten Engpässe im Moskau-Tourismus herhalten muß. Im Unterschied zu denen, die das Politereignis praktisch organisieren, fühlen sich viele Moskauer Bürger weniger berührt von dem bevorstehenden Ereignis, auch wenn sie sich privat mit Politik befassen. „Ihr Kanzler interessiert mich, ehrlich gesagt, momentan sehr wenig“, sagt mir der Starkommentator einer großen Zeitung. Und eine Büroangestellte erklärt, sogar früher hätte das Volk hinter der Außenpolitik gestanden, um so mehr jetzt bei Gorbatschow. Die Innenpolitik sei jetzt spannender. „Seit die Sache mit Afghanistan abgeschlossen ist, die alle sehr aufgeregt hatte, sind wir ganz mit uns selber beschäftigt.“

Größeres Interesse erregt der Kanzlerbesuch in der Redaktion der Zeitung 'Selskaja Schisn‘ ('Dorfleben‘), wo dem Namen zum Trotz - ein alles anderer als provinzieller Geist herrscht. Mit acht Millionen Abonnenten ist dies die zweitgrößte Parteizeitung nach der 'Prawda‘. Hier hat man sich in letzter Zeit besonders für die sowjetisch-deutschen Beziehungen interessiert. Erst im September hat die 'Selskaja Schisn‘ weltweit Aufsehen erregt: Am Ende eines großen Artikels über die Wolgadeutschen und ihr historisches Schicksal setzte sie sich für die aktuellen Interessen dieser Bevölkerungsgruppe ein.

Wladimir Solowjow, außenpolitischer Redakteur dieser Zeitung, begrüßt die Abkommen über Zusammenarbeit in der Konsumgüterindustrie und im Umweltschutz, die während des Kanzlerbesuchs geschlossen werden sollen. Er wird aber deren Wirkung nicht überschätzen: „Ich habe es noch nie erlebt, daß sich außenpolitische Schritte sehr schnell in innenpolitische Resultate umsetzten.“ Es wäre naiv, das Niveau der sowjetischen Wirtschaft nur nach den Zuständen im Lande zu beurteilen. Hochentwickelte Technologien seien durchaus vorhanden, zum Beispiel in der Raumfahrt.

Ganz andere Akzente setzen die meist selbst noch sehr jungen freien Mitarbeiter der größten sowjetischen Jugendzeitschrift 'Junost‘ (Auflage 8 Millionen). „Dinge wie das START-Abkommen verblassen vor den materiellen Erwartungen der Leute hier“, sagt mir ein Korrespondent, „die Bedrohung von Raketen ist für die meisten Leute nichts Reales, und es kümmert sie wenig, ob 50 oder 100 davon her oder weggefahren werden. Die Leute gucken, was für Wurst und Kleidung es in den Geschäften gibt.

Wenn früher die Staatsbesuche von nichts anderem begleitet waren als vom Bild der Staatsmänner, die sich gegenseitig die Visagen ablutschen, und dem der kilometerlangen Reihen von Spanischen Reitern am Leninski Prospekt, so verhielt sich das Volk demgegenüber völlig gleichgültig. Heute ist das eine ganz andere Sache. „Beim Staatsbesuch aus Italien gab es jetzt gleich eine tolle italienische Ausstellung und italienische Waren auf dem Markt“, begeistern sich die jungen Journalisten. „Daß Waren auf den Markt kommen, die unsere Kooperativen dazu anregen, Gleichwertiges zu bieten, und daß dadurch unsere Produktion allmählich auf das Niveau der Bundesrepublik kommt, das hoffen wir. Und auch, daß unsere armen, geplagten Frauen sich nicht mehr wegen irgendwelcher ausländischer Lappen gegenseitig die Augen auskratzen.“ Als es hieß, daß der Kanzler erwartet wird, stieg bei den jungen Leuten auch eine andere Hoffnung auf: „Die Hauptsache ist, daß wir aus der verteufelten Situation herauskommen, nicht reisen zu dürfen. Denn es soll ja auch ein Vertrag über Jugendaustausch geschlossen werden. Falls diesmal Jugendliche bei der Ankunft des Gastes auf den Leninski Prospekt gehen, dann nicht wie früher so oft, um mit den Polizisten haschen zu spielen, sondern um euren Kanzler als einen Menschen zu begrüßen, der einer von uns werden könnte.“

Fast alle russischen Bürger, die ich auf den Kohl-Besuch hin anspreche, bemühen sich, mir auch etwas Nettes über Helmut Kohls Persönlichkeit zu sagen; da sein Bild hier nicht gerade konturenscharf ist, eine schwierige Aufgabe. „Es heißt, daß Kohl ein Mensch ist, der, wenn nötig, viele Kompromisse schließt“, meint eine Lehrerin an einer höheren Schule - und auf mein Lachen hin: „Was hast du, das ist doch ein guter Zug!“ Und sie fährt fort: „Gestern war ein Interview im Fernsehen, und ich war überrascht, als Kohl sagte, wir sollten uns nicht nur an das Schlechte erinnern, das sich in unserer gemeinsamen Geschichte in diesem Jahrhundert ereignet hat, sondern auch an vieles, was unsere Völker in früheren Jahrhunderten verbunden hat: in der Wissenschaft, der Literatur und Musik. Das hat er doch gut gesagt.“

Von Kohls Goebbels-Vergleich hat sie noch nie gehört. Ganz im Gegensatz natürlich zu Wladimir Solowjow von der 'Selskaja Schisn‘. Auf meine entsprechende Frage antwortet er: „Es wäre eine Lüge, wenn ich sagte, wir haben das vergessen.

Barbara Kerneck