Misstraut den Grünanlagen!

■ Heinz Knobloch in Bremen: Ein Mann, der bundesdeutsche Feuilletonisten um den Schlaf bringen würde: Heute abend, 20 Uhr, Stadtbibliothek Neustadt

Heute abend besteht die Möglichkeit, einen Mann kennenzulernen, der bundesdeutsche Feuilletonisten um den Schlaf bringen würde, wenn sie nicht so fest schliefen. Heinz Knobloch heisst er, gebürtiger Dresdner des Jahrgangs 1926 und lebt seit 1935 in Berlin, wo er sich als Spaziergän

ger und Schriftsteller betätigt. Während seine hiesigen KollegInnen von den grossen Zeiten des republikanischen Genres Feuilleton und seinen Meistern, den Hessels und Polgars, Auburtins und Friedells träumen, ist Herr Knobloch in Berlin/DDR damit befasst, es ihnen gleichzutun. Den Meistern, wohlgemerkt, nicht den Schlafmützen.

Seit 1968 ist Knobloch Kolumnist der „Wochenpost“, mehr als die Hälfte seiner rund 30 Bücher enthalten Beispiele für die quicke Lebendigkeit der totgeredeten Kunstform. Wer es nicht glaubt, mag sich unter Zuhilfenahme seines im Westberliner Verlag Das Arsenal erschienenen Feuilleton-Auswahl „Angehaltener Bahnhof“ bekehren lassen: Spaziergänge durch das sichtbar gemachte Dickicht der Geschichte mit einem Reiseführer, dem die Fantasie bis unter die Hutkrempe reicht. Dort, wo den Historikern die papierenen Hülfsmittel ausgehen und sie gar nicht mehr weiterragen, entdeckt Heinz Knobloch verborgene Hinweise, denen er wie ein Schnitzeljäger nachspürt.

1986 überraschte er Kritiker in

Ost und West mit einem Werk über Mathilde Jacob, von der zwar bekannt war, dass sie in entscheidenden Lebensjahren der Rosa Luxenburg eine wichtige Rolle gespielt hatte, über deren eigenes Leben jedoch kaum Informationen vorlagen. Oder besser: Für deren Lebensgeschichte sich einfach niemand interessierte. „Meine liebste Mathilde“ sichert die Spuren eines unauffälligen jüdischen Lebens in Berlin zwischen 1873 und 1942, ohne dabei „nur“ Biographie zu sein.

Heinz Knobloch erzählt von seiner Suche nach Lebenszeichen, lässt seine Leser teilnehmen an einer mühevollen archäologischen Expedition in die Zeitgeschichte und teilt mit ihnen das Entsetzen darüber, wie dick die Erd-und Trümmerschicht bereits geworden ist, die das alles verdeckt.

Misstraut den Grünanlagen. Dieser Satz könnte ein Motto sein für die Arbeit Knoblochs. Tatsächlich handelt es sich hierbei um den ersten Satz in einem Buch über jenen Mann, von dem heute abend die Rede sein wird: Moses Mendelssohn (1729-1786), Fa

brikant, Philosph, Schriftsteller und Menschenfreund. Ein Jude im friderizianischen Preussen, dessen Kampf gegen die Intoleranz und für die nicht nur jüdische Emanzipation in Deutschland Gegenstand ungezählter Monographien und Biographien gewesen ist. Eigentlich, so berichtet Knobloch, habe er über Mendelssohn nur eine Zeitungsseite schreiben wollen. Dann habe er begonnen, Material zu sammeln und mit immer mehr Staunen gelesen, wer dieser Mann war.

Es ist ein längerer Spaziergang durch Berlin und über 200 Jahre europäischer Geschichte geworden. Auf fast 500 Druckseiten, in Knoblochs Buch „Herr Moses in Berlin“, kann man das Ergebnis nachlesen oder sich eben heute auszugsweise vorlesen lassen.

Was wir mit einem Mann zu schaffen haben, der vor mehr als zwei Jahrhunderten in Berlin gestorben ist? Ungefähr so viel oder so wenig, wie mit den Ereignissen am 9. November 1938 in Bremen, deren bevorstehender 50. Jahrestag Anlass für die Veranstaltung heute abend ist.

Michael Augustin