Vom Nachttisch geräumt: LEONHARD

Susanne Leonhard (1895-1984), die schon in der Spartakusgruppe den Ersten Weltkrieg bekämpft hatte, war bis zu ihrem Austritt 1925 in der KPD gewesen, dann 1933 im Widerstand gegen das Naziregime wieder Parteimitglied geworden, emigrierte im Juni 1935 aus Schweden und von einem Gespräch mit der Kollontai kommend in die Sowjetunion. Im Oktober 1936 wurde sie verhaftet. Anklage: Kurier Trotzkis. Das bedeutet: bis 1948 Gefängnisse, Lager. In ihrem Buch Gestohlenes Leben schildert sie ihre Erlebnisse im realen Sozialismus von Väterchen Stalin. Die Erinnerungen einer „Sozialistin in Stalins Gulag“ machen einem wieder einmal klar, daß es keinen Grund gibt, dem Regime in der Sowjetunion mit Freundlichkeit gegenüberzutreten. Dort herrscht die langlebigste Diktatur dieses Jahrhunderts, und die Chance, daß ein aufgeklärter Prinz ihr den Garaus machen könnte, ist denkbar gering. Die Neuauflage von Gestohlenes Leben folgt der von 1968. Leider ohne die 80 Seiten „Achtzehn Jahre danach“ -, die die Autorin dem Band damals beifügte. Ein beredtes Plädoyer für eine neue Ostpolitik. Heute auch ein Blick in die Hoffnungen jener Jahre. Geschrieben im Vertrauen auf die Folgen der Entkolonialisierung auch für das Verhältnis der beiden Weltmächte. Zitiert wird Chrustschow, der doch schon seit vier Jahren nichts mehr zu sagen hatte. Liest man dieses Nachwort heute, so fürchtet man, in zwanzig Jahren könnte jemand unsere Hoffnungen auf Gorbatschow ebenso veraltet und für enttäuscht befinden. Schade, daß dieser Anhang fehlt. Aber für die Geschichte der Sowjetunion in den dreißiger und vierziger Jahren ist Susanne Leonhards Gestohlenes Leben unverzichtbar.

Susanne Leonhard, Gestohlenes Leben, Athenäum, 546 Seiten, zwei Karten, 48,-DM