Die Wiederkehr des Nikolai Bucharin

Premiere auf dem Wuppertaler „Internationalen Bucharin-Symposium“: sowjetische und chinesische Theoretiker debattierten über den Stalinismus, und Exilanten suchten gemeinsam mit Dagebliebenen nach dem Sündenfall des Sozialismus / Überraschende Einigkeit aller Teilnehmer über „Das politische Vermächtnis Lenins“  ■  Von Walter Süß

Warum setzen sich heute 100 WissenschaftlerInnen aus gut 20 Ländern vier Tage lang zusammen, um Debatten wiederaufzunehmen, die vor mehr als 60 Jahren geführt wurden? Der Anlaß war historisch: der 100.Geburtstag jenes Nikolai Bucharin, den Lenin am Ende seines Lebens als den „Liebling der Partei“ bezeichnet hatte. Es waren aber keineswegs nur HistorikerInnen, sondern auch Ökonomen, Sozial- und LiteraturwissenschaftlerInnen, die aus Moskau und Paris, Peking und Uppsala, Budapest und Ottawa und noch vielen anderen Orten angereist waren, um an der Bucharin -Konferenz teilzunehmen.

Die Idee zu diesem Symposium war vor etwa eineinhalb Jahren in Moskau entstanden, bei einem Gespräch zwischen Theodor Bergmann und Anna Michajlowna Larina, der Frau Bucharins. Die damalige Intention war natürlich, der Forderung Nachdruck zu verleihen, Bucharin - fünfzig Jahre nach seiner Ermordung - endlich zu rehabilitieren. Denn noch immer war das Todesurteil gegen ihn nicht aufgehoben, galten seine Hinterbliebenen als Angehörige eines „Volks-“ und „Parteifeindes“. Seither hat sich viel geändert. Die Politik der Rehabilitierungen, die seit einem guten Jahr schon viele Opfer des stalinistischen Terrors auch in der Sowjetunion als Opfer kenntlich gemacht hat, hatte vor Bucharin nicht haltgemacht. Nur an Trotzki tastet man sich erst langsam heran ... Diese Entwicklung mußte den Charakter der geplanten Tagung zwangsläufig verändern. Sie wurde dadurch nicht etwa überflüssig, sondern zu einer der spannendsten Tagungen, die der Berichterstatter bisher erleben durfte. Wo zuvor hätte man erlebt, daß sowjetische und chinesische Gesellschaftswissenschaftler, die in ihren Heimatländern wichtige Positionen im ideologischen Apparat innehaben, einander in der Verurteilung des Stalinismus und der Beschwörung einer Alternative, „Bucharin“, zu übertreffen suchen. Wo hätte es das bisher gegeben, daß westliche Sowjetspezialisten, osteuropäische Exilanten und solche Menschen, die ohne wenn und aber dort geblieben sind, ruhig und solidarisch darüber diskutieren, an welchem Punkt die Entwicklung schief gelaufen ist: erst mit Stalin (1928/29) oder schon mit Lenin (1917)? Und daß ein westlicher Marxist die Rehabilitierung auch und gerade Trotzkis fordert und dafür von kommunistischen Parteimitgliedern mit Beifall bedacht wird, dürfte ebenfalls neu sein.

Schlechte Zeiten für Apostel

Die Fähigkeit zum Dialog war die eine ermutigende Merkwürdigkeit dieser Tagung. An ihrem Ende hat der amerikanische Historiker Moshe Lewin diese Atmosphäre in der Beobachtung zusammengefaßt, daß - obwohl zehn SowjetbürgerInnen gekommen waren - es doch keine „sowjetische Delegation“ gab, „sondern hier waren sowjetische Kollegen, von denen jeder seine eigene Sprache sprach“. Das galt ebenso für die vierköpfige chinesische Delegation und für die höchst heterogene westliche Teilnehmerschaft. Es unmöglich, alle Namen zu nennen, aber einige müssen doch erwähnt werden: Swetlana Gurwitsch, Bucharins Tochter; Miklos Kun, der Sohn Bela Kuns; der sowjetische Agrarhistoriker Viktor Danilov; Su Shaozi, ein Vordenker chinesischer Reformpolitik, der erst kürzlich wegen seiner sehr weitgehenden Demokratisierungsvorstellungen gemaßregelt worden ist; Ernest Mandel; Pierre Brou Theodor Shanin; Jiri Kosta und viele, viele andere. Daß dieser bunte Haufen es schaffte, produktiv miteinander zu diskutieren, ist eine Erfahrung, die keiner der Beteiligten vergessen wird.

Die andere Merkwürdigkeit war, daß eine naheliegende Erwartung nicht eingetreten ist: daß der frühere Apostel (Stalin) durch einen neuen (Bucharin) ersetzt wird. Fast alle Referenten waren bemüht, trotz grundsätzlicher Sympathie auf die theoretischen und politischen Schwachstellen Bucharins hinzuweisen. Freilich gab es große Unterschiede bei der Beantwortung der Frage, wo die denn nun lägen. Zwar mochte keiner das zeitweilige Bündnis Bucharins mit Stalin (das Gorbatschow noch vor einem Jahr Bucharin als Verdienst angerechnet hatte) verteidigen, doch in der Einschätzung der von ihm propagierten Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik war man sich keineswegs einig. Fand etwa der polnische Ökonom Michal Mirski, Bucharin habe sich zu früh von der Neuen Ökonomischen Politik (d.h. Marktbeziehungen des Staates mit einer individuell wirtschaftenden Bauernschaft) losgesagt, so meinte der Abteilungsleiter im Moskauer Institut für Marxismus -Leninismus, Wladimir Kozlov, er habe das viel zu spät getan. Damit wiederum waren andere sowjetische Wissenschaftler, so der Agrarhistoriker Danilov, überhaupt nicht einverstanden. Gerade diese Fähigkeit differierende Sichtweisen offen zu diskutieren, zeigt einen Wandel der politischen Kultur.

Marksteine eines

neuen Sozialismus

Es ging um die Suche nach einer Alternative zum „Stalinismus“ (ein Begriff, der auch sowjetischen und chinesischen Wissenschaftlern inzwischen ohne Zögern über die Lippen geht). Weitgehende Einigkeit bestand darin, daß der mit der Zwangskollektivierung der sowjetischen Bauernschaft eingeleitete Übergang zum Stalinismus eine vermeidbare - Tragödie weltgeschichtlichen Ausmaßes war. Selbst die chinesischen Teilnehmer bezeichnen „Stalin“ inzwischen als Verhängnis für ihr Volk.

Die Alternative dazu hieß „Neue Ökonomische Politik“, wobei insbesondere die sowjetischen Teilnehmer auf der Notwendigkeit eines Übergangs zum Genossenschaftswesen und der Industrialisierung beharrten - aber eben auf freiwilliger Basis. In dieser Alternative sind alle damaligen politischen Strömungen eingeschlossen, auch die „Linke Opposition“ um Trotzki. Letzterer wurde auch von sowjetischen Wissenschaftlern zugestanden in wichtigen Punkten (Industrialisierung; weniger im antibürokratischen Kampf) gegen Bucharin (nicht nur gegen Stalin) Recht gehabt zu haben. Bucharin hat 1929 einen Artikel zu Lenins fünftem Todestag, „Das politische Vermächtnis Lenins“, verfaßt. Er hat damals - schon weitgehend entmachtet - einen verzweifelten Kampf gegen die beginnende Zwangskollektivierung geführt. In dieser Arbeit finden sich wesentliche Punkte, in denen sich die meisten Teilnehmer der Wuppertaler Tagung einig waren. Sie zu nennen lohnt, denn sie bezeichnen die Richtung, in die die künftige Entwicklung gehen könnte, wenn die gegenwärtige Reformwelle anhält: Sozialistische Umwälzungen können nicht gegen, sondern nur mit den privaten Interessen der Mehrheit der Bevölkerung erfolgreich sein, sonst führen sie zur Diktatur; Abbau des zentralistischen Staatsapparates als Teil der Transformationsstrategie; Marktbeziehungen als notwendiger Bestandteil einer sozialistischen Ökonomie. Darüber hinaus bestand solche Einigkeit noch in zwei weiteren Punkten: Kultureller Pluralismus ist unabdingbarer Bestandteil des Sozialismus in jeder seiner Entwicklungsphasen (über die Notwendigkeit auch eines politischen Pluralismus wird noch gestritten); Kampf gegen die Bürokratie und soziale und politische Emanzipation sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Es waren natlich Vordenker reformpolitischer Entwicklungen, die bei dieser Tagung zusammengekommen waren. Doch sollten sie sich in ihren Ländern durchsetzen können, dann würde in der Tat ein neues weltgeschichtliches Kapitel aufgeschlagen.