Wendland-Prozeß geplatzt

Formfehler des Gerichts in Lüneburg verhindern Verhandlung / Zwei Männern aus dem Gorleben-Widerstand soll nach §129 der Prozeß gemacht werden / Ihnen wird Eingriff in Schienenverkehr vorgeworfen  ■  Aus Hamburg Gabi Haas

Vier Jahre nach einer Serie von Sabotageakten im atombedrohten Wendland sollte zwei Angeklagten aus dem Gorleben-Widerstand der Prozeß gemacht werden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§129) in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Schienenverkehr vor.

Doch das Mammutverfahren mit seinen 12.000 Ermittlungsakten vor der Strafkammer des Lüneburger Landgerichts platzte, bevor es richtig begonnen hatte: Die Verteidigung konnte dem Gericht am vergangenen Dienstag nachweisen, daß ihm bei der Auswahl der Schöffen gleich mehrere Formfehler unterlaufen waren.

Erinnern wir uns: Wegen der in Lüchow-Dannenberg geplanten oder bereits schon gebauten Atomfabriken häuften sich seit 1983 die Anschläge auf die am Bau beteiligten Firmen und die zum Atomtransport vorgesehenen Bahnstrecken. Lagerhallen, Fertigungsanlagen und Baufahrzeuge gingen in Flammen auf.

1984 wurden mehrere Aktionstage gegen das Zwischen- und Endlager sowie die geplante Konditionierungshalle veranstaltet, bei denen öffentlich zu Blockaden der möglichen Transportwege aufgerufen wurde. Am sogenannten „Tag X“ im Oktober desselben Jahres strömten Tausende nach Lüchow-Dannenberg, um symbolisch zu erproben, wie die erwarteten ersten Atommüll-Transporte aufzuhalten seien. Schienen wurden durchgeschweißt, Baumstämme quergelegt, Telefonmasten gekippt.

Um diese Protestwelle aufzuhalten, hatte schon im März 1984 eine Sonderkommission mit über 40 Beamten aus Kripo-, Landes - und Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz ihre Arbeit vor Ort aufgenommen. Im sogenannten Spudok(Spurendokumentations)Computer wurden über zehn Prozent der Bevölkerung aus Lüchow-Dannenberg erfaßt, Telefone abgehört und Tausende von Protokollseiten angelegt. Mit enormem Aufwand versuchten damals die Ermittler, sich ein lückenloses Bild über die Kontakte und Beziehungen der im Widerstand aktiven Menschen zu verschaffen. Als Legitimation wurde von der Sonderkommission sogar die Existenz einer terroristischen Vereinigung (§129a) behauptet - ein Konstruktion, die später fallengelassen werden mußte.

Von den Tausenden im Spudok erfaßten Personen und den dann folgenden 40 Ermittlungsverfahren blieben schließlich drei Fälle übrig, in denen Anklage erhoben wurde. Einer der Beschuldigten befindet sich zur Zeit in Nicaragua als Aufbauhelfer, „wegen fehlenden Vertrauens in die Justiz“, wie es heißt.

In jahrelanger Kleinarbeit hatte Staatsanwalt Müller vergeblich an dem Versuch gebastelt, den Angeklagten Hansel S. und Michael G. die Brandanschläge und andere Sabotageakte auf einige am Zwischenlagerbau beteiligte Firmen nachzuweisen. Inzwischen wird nur noch der Vorwurf aufrechterhalten, auf einer nur zwei- bis dreimal wöchentlich von einem Güterzug befahrenen Bundesbahnstrecke Äste auf die Schienen gelegt, Telefonmasten umgesägt und Schotter beiseite geräumt zu haben.

Daß inzwischen Richter wie Staatsanwalt das Polit-Verfahren am liebsten schnell vom Halse haben wollen, geht aus ihrer Strategie schon im Vorfeld des Prozesses hervor: Für ein Geständnis der Angeklagten boten sie eine Geld beziehungsweise Bewährungsstrafe an. Doch ob dieser Deal zustandekommen wird, darauf müssen sie durch den von ihnen selbst verschuldeten Prozeßabbruch noch ein paar Monate warten. Möglicherweise wird das Verfahren zu einem Zeitpunkt neu eröffnet, zu dem die ersten Castor-Transporte mit abgebrannten Brennelementen vom Atomkraftwerke Stade ins Gorlebener Zwischenlager rollen sollen. Schon Hunderte von Lüchow-Dannenberger Bürgern haben in der örtlichen 'Elbe -Jeetzel-Zeitung‘ per Anzeige öffentlich angekündigt, sich an diesem Tag der heißen Fracht selbst in den Weg zu stellen.