Lehrmeister Kohl mahnt die Russen

■ Kohls erster Besuchstag in Moskau mit Tischrede gekrönt / Der Kanzler setzt sich vehement für die Abrüstung der sowjetischen Waffenpotentiale ein / Abkommen über Lieferung von Hochtemperaturreaktor unterzeichnet / Handel erhofft sich Aufschwung

Berlin (dpa/taz) - Für den Kanzler war es endlich soweit. Als er sich am Montag nachmittag mit Michail Gorbatschow zu einem ersten der insgesamt sechs Gespräche unter vier Augen zurückziehen durfte, waren die anstrengenden Begrüßungsprozeduren am Flughafen und im Kreml schon vergessen.

In seiner Tischrede forderte der Bundeskanzler den sowjetischen Gesprächspartner zu größeren und einseitigen Abrüstungsschritten auf. „Wer mehr hat, muß mehr abrüsten“, erklärte er. Ausdrücklich erwähnte Kohl dabei die atomaren Kurzstreckenraketen des Warschauer Paktes. Ohne die eigenen Überlegungen für den Ersatz der inzwischen abgebauten Mittelstreckenraketen anzusprechen, appellierte er an die Sowjetunion, „auf einen Teil ihres Potentials zu verzichten“. Dies würde ihre Sicherheitsinteressen nicht beeinträchtigen „und die Voraussetzungen dafür verbessern, deutliche und überprüfbare Reduzierungen sowjetischer und amerikanischer Kurstreckenraketen auf gleiche Obergrenzen zu erreichen“. Ohne auf die Gorbatschowvorschläge bei der Verifizierung und Überprüfung der Abrüstungschritte einzugehen, stellte Kohl eigene Grundsätze für künftige Abrüstungsvereinbarungen auf: „Erst verläßliche Überprüfung“ schaffe Vertrauen.

Als Kernproblem der europäischen Sicherheit führte Kohl „das schwerwiegende Ungleichgewicht auf konventionellem Gebiet“ ins Feld und gab als Ziel der deutschen Politik an, „ein stabiles, ausgewogenes Kräfteverhältnis auf niedrigem Niveau“ herzustellen und eine Lage in Europa zu schaffen, in der „keine Seite über die Fähigkeit zur raumgreifenden Offensive und zum Überraschungsangriff“ verfüge. Höchst dringlich bleibe auch eine weltweite Ächtung der chemischen Waffen, schrieb er dem Kremlchef ins Stammbuch. In Antwort auf die vom sowjetischen Parteichef propagierte Idee vom „Gemeinsamen Haus Europa“ versprach Kohl „bei aller Genugtuung über die immer enger werdende europäische Integration, nicht das ganze Europa aus den Augen“ zu verlieren. „Wenn dieses Haus viele Fenster, viele Türen hat, wenn die Menschen frei zueinanderkommen können, wenn nichts und niemand den Austausch von Gütern und Ideen, von Wissenschaft und Kultur hemmt“, dann könnte er sich mit diesem Bild einverstanden erklären.

Kohl setzte sich für die Einbeziehung Berlins in den Ausbau der Beziehungen zur UdSSR ein und forderte ganz im Stile deutscher Sonntagsreden die Einheit der Nation. Als persönlichen Wunsch richtete er die Bitte an Gorbatschow, die rund zwei Millionen Sowjetdeutschen „wieder wie früher als Mittler zwischen den Völkern“ anzuerkennen. Voraussetzung dafür seien aber „gesicherte kulturelle Rechte und freie Religionsausübung“.

Riesenhuber unterzeichnet

Reaktorabkommen

Als könnten die beiden Parteien es gar nicht erwarten: Das erste Abkommen über die Lieferung eines Hochtemperaturreaktors wurde von Bundesminister Riesenhuber schon am Montag gleich nach Fortsetzung auf Seite 2

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seinem ersten Treffen mit Michail Gorbatschow unterzeichnet. Der Vertrag war am vergangenen Freitag von Vertretern der Asea Brown Boveri AG (ABB) und des Kraftwerkbereichs KWU der Siemens AG und deren sowjetischen Partnern in Moskau paraphiert worden. Es sieht die Lieferung eines Hochtemperaturreaktors mit einer Leistung von 200 Megawatt vor, der als Pilotanlage in Dimitrowgrad 1.000km östlich von Moskau errichtet werden soll.

Neuen Schwung für den im vergangenen Jahr rückläufigen deutsch-sowjetischen Handel erhoffen sich deutsche Wirtschaftsvertreter von dem Besuch. Die Chancen für die deutsche Wirtschaft stehen jetzt besser, nachdem mit dem Drei-Milliardenkredit eines bundesdeutschen Bankenkonsortiums unter Federführung der Deutschen Bank AG zur Modernisierung der Konsumgüterindustrie Aufträge der sowjetischen Seite an deutsche Unternehmen zu erwarten sind.

Kohl wird heute sechs Regierungsabkommen unterzeichnen, eine Vereinbarung über ein deutsch-sowjetisches Gesprächsforum sowie zahlreiche Abmachungen zwischen deutschen Unternehmen und ihren sowjetischen Partnern. Diese rund zwei Dutzend privatwirtschaftliche Abkommen und Joint Ventures im Gesamtwert von mehreren hundert Millionen DM sind am Montag bereits im Moskauer Internationalen Handelszentrum unterschrieben worden.