Neudeutsche Russophilie

■ WISO, Montag, 24.10., ZDF, 21.05 Uhr

Auch das ZDF-Magazin WISO überschlägt sich vor Freude, daß die Russen nun den Wert der Schumpeterschen Unternehmerpersönlichkeit wiedererkennen und „die Tüchtigen und die Pfiffigen“ dort freie Bahn haben sollen. Wohin das führt, können wir bei uns ja prima studieren, und für jemanden, der lieber Gedichte schreibt als Bilanzen, ist die Welt dabei, wieder ein Stück unwirtlicher zu werden. „Das Wort 'Manager‘ soll seinen negativen Klang verlieren“, und es wird der „Unternehmer neu entdeckt als nützliches Mitglied der Gesellschaft“.

Im selben Atemzug zeigt der WISO-Film einen jungen geschniegelten Moskauer, der dieses alles ernst genommen und also eine mafiaähnliche Organisation zur Erpressung von Schutzgeldern von Kollektiven aufgezogen hat. Zufällig hat die Miliz ihn erwischt, und nun sitzt er wie ein Häuflein Unglück auf der Wache und versteht nichts mehr. Er hat doch nur getan, wozu die neue Propaganda „die Tüchtigen und die Pfiffigen“ ständig auffordert, nämlich Lücken im Wirtschaftsgefüge durch Eigeninitiative aufzufüllen und dabei selbst reich zu werden.

Als westlicher Alt-Linker ist man erschüttert über soviel Dummheit. Der verteufelte Doppelcharakter der Ware führt bekanntlich dazu, daß dem Unternehmer vor allem sein Profit interessiert, und erst in zweiter Linie, ob seine Tätigkeit nützlich ist. Soweit Sankt Marx; und Sankt Lenin konstatierte, daß jede Minute kapitalistischer Produktion eben solches Bewußtsein erzeuge, und damit Armut, Ungleichheit, Arbeitslose, Elend und imperialistische Kriege. Tatsächlich wurden in der Sowjetunion bereits eine Million „Frührentner“ oder „umgesetzt“, insgesamt rechnen sie jetzt mit zehn Millionen Arbeitslosen in den nächsten Jahren, aber das interessiert WISO nicht.

Wie zu Zeiten von Lenins NÖP und ihren „Russenverträgen“ souffliert wieder mal die allerfeisteste und gewissenloseste deutsche Kapitalfraktion. Ausgerechnet ihr Hauptfeind Rußland avanciert zum Kronzeugen. Die Atomwirtschaft feiert die Lieferung des HTR als „Meilenstein im AKW-Export“. Da stehen uns alten Malleville- und Brokdorf-Kämpfern die Haare zu Berge. Nachdem hier nun selbst die Komposthaufen-Fraktion so langsam gelernt hat, daß Umweltzerstörung aus Kapitalverwertung resultiert, und daß wir dieses ganze System zerstören müssen, um die Erde zu retten, legen sie dort jetzt erst richtig los. Atomstrom, Massenmotorisierung und Konsumerhöhung sind die Leitsterne von Perestroika, und, mal objektiv gefragt, warum sollten nur wir das dürfen. Jahrzehntelang haben wir vorgemacht, wie prima man lebt, wenn man alle und alles bis aufs letzte ausbeutet, und jetzt wollen der Osten und danach die Dritte Welt es auf dieselbe Weise versuchen. Na dann fröhliche Himmelfahrt...

Siebzig Jahre lang war die Sowjetunion rot, nicht gerade eine Hort von Humanität und Fortschritt, aber ein sicheres Hinterland für alle antikapitalistischen Bestrebungen. Siebzig Jahre: Das war die letzte Chance, die uns die Geschichte in ihrer übergroßen Barmherzigkeit eingeräumt hat, mit der Natur ins Reine zu kommen. Von jetzt an wird auch der letzte Erdenwinkel vom Wolfsgesetz beherrscht werden und „die Tüchtigen und die Pfiffigen“, das heißt, der Egoist und der Verbrecher, werden die Erde vollends in einen Ascheball verwandelt.

Dr. Seltsam