„Mehr Sensibilität für nationale Fragen“

Wladimir Solowjow ist außenpolitischer Redakteur der sowjetischen Zeitung 'Selskaja Schisn‘  ■ I N T E R V I E W

taz: Ihre Zeitung wird an über 540 Orten in der Sowjetunion gedruckt, 600 Ihrer Mitarbeiter sind „Freie“. Sie haben in der letzten Zeit Artikel über die deutsche Minderheit gedruckt. Kam die Anregung dazu über die Deutschen von der Basis?

Wladimir Solowjiow: Als professionelle Journalisten sind wir ständig auf der Suche nach brisanten Themen. Allgemein ist jetzt bei uns die Sensibilität für nationale Fragen gestiegen. Und wir hielten es einfach für an der Zeit, diese Frage aufzugreifen.

Daß gerade diese Artikel soviel Beachtung im Ausland fanden, verstehe ich übrigens nicht ganz. Es war ja nur ein Thema in einer ganzen Reihe von Artikeln, in denen wir unseren eigenen Beitrag zum bevorstehenden Nationalitätenplenum des Obersten Sowjet brachten. Im Inland hat zum Beispiel auch unsere Berichterstattung über Berg -Karabach und die Ereignisse in Usbekistan einiges Aufsehen erregt.

Ich selbst habe schon oft deutsche Siedlungen in der ganzen Sowjetunion besucht und mir Gedanken über diese Leute gemacht. Es ist schon merkwürdig, plötzlich in einem Dorf nur Deutsch zu hören, auch wenn sogar ich als Russe merke, daß ihr Deutsch nicht das allermodernste ist.

Vor wenigen Tagen hat die deutschsprachige zentrale sowjetische Zeitung 'Neues Leben‘ eine Petition einer großen Gruppe von Deutschen veröffentlicht, in der sie die Regierung auffordern, an der Wolga wieder eine autonome deutsche Republik zu errichten.

Warum nicht? Es gibt jetzt bei uns viele solcher Petitionen, und warum sollen nicht die Deutschen auch eine formulieren.

Ob so etwas praktisch möglich ist, kann ich kaum beurteilen. Aber das Haupthindernis ist wohl eher ein psychologisches. Wenn wir in der Außenpolitik immer zur Achtung der bestehenden zwischenstaatlichen Grenzen aufrufen, dann müssen wir das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen auch auf unseren inneren Status anwenden. Es geht hier nicht um die Wolgadeutschen und nicht um die Krimtataren, sondern es geht tatsächlich ums Prinzip. Außerdem: Wie sollen wir etwa ein Volk wie die Sowjetdeutschen, von denen viele an ihren neuen Wohnorten wurzeln geschlagen haben, es zu einem gewissen Wohlstand gebracht haben, noch einmal umsiedeln? Wieder durch Zwangsmaßnahmen? Das ist doch der blühende Unsinn.

Und wenn man den Leuten die Möglichkeit gäbe, auf individueller Basis umzuziehen?

Das gibt es ja schon. In dieser Hinsicht sind alle Restriktionen aufgehoben worden und es gibt jetzt tatsächlich schon wieder Gruppen von Deutschen, die an der Wolga leben.

Außenminister Genscher hat sich dahingehend geäußert, daß die Bundesregierung die Möglichkeiten der Auslandsdeutschen zur kulturellen Selbstverwirklichung fördern will.

Die Zahl der Ausreiseanträge von Sowjetdeutschen ist in den letzten drei Jahren um das Fünffache gewachsen und ich sehe kaum, daß hier noch eine weitere Steigerung möglich ist. Bei allen politischen Absichten hat die Bundesregierung natürlich erst einmal zu berücksichtigen, daß es sich bei diesen Menschen um sowjetische Bürger handelt. Nicht alle von ihnen sprechen Deutsch, wie auch nicht jeder, dessen Vorfahren vor 100 Jahren oder mehr aus Rußland nach Deutschland emigriert sind, sich heute noch als Russe fühlt.

Was nun die kulturellen Rechte einer solchen Gruppe angeht, zum Beispiel die Ausbilduing in einer eigenen Sprache, so sind sie ein Teil der Menschenrechte, und bevor wir da an bilaterale Vereinbarungen denken, müssen wir uns erst einmal an internationalen Konventionen messen, die wir offiziell anerkannt haben. Wir haben sie auch in der Praxis zu beachten, ob es uns gefällt oder nicht.

Was die Forderung des kulturellen Erbes angeht, so sind die Sowjetdeutschen im Vergleich zu anderen Nationalitäten in unserem Staat gar nicht so schlecht dran. Sie haben Schulen, Verlage, einen eigenen Rundfunk und auch ein Fernsehprogramm. Manche der kleinen Nordvölker haben da viel mehr zu leiden. Eine Frage wie die Weiterentwicklung deutscher Schulen oder eines deutschsprachigen Fernsehens ist in erster Linie durch unsere innenpolitische Situation bedingt und natürlich von einem Ereignis wie dem Kohl-Besuch völlig unabhängig. Man darf ja auch nicht vergessen, daß all diese Maßnahmen im gesamtstaatlichen Maßstab gewaltige Geldsummen verschlingen.

Da jetzt in der Sowjetunion allenthalben die Privatinitiative gefördert wird, könnte man sich doch auch vorstellen, daß Sowjetdeutsche Kooperativen, Zeitungen oder Theater gründen.

Ich freue mich wirklich sehr über die Belebung unserer Öffentlichkeit durch solche Unternehmungen. Aber ich sehe auch eine Gefahr für den Fall, daß diese Entwicklung einseitig weitergeht, nämlich die Gefahr, daß die Produkte der Kooperativen vor allem finanziellen Eliten dienen. Im Falle der Sowjetdeutschen hieße das dann, daß es sich nur die Reichen leisten könnten, besonders „deutsch“ zu sein. Unser Staat braucht unbedingt die Belebung durch Konkurrenz. Wenn davon aber die Rede ist, denken die Leute meistens nur an die Konkurrenz zwischen Kooperativen oder an Privatleute verpachtete landwirtschaftliche Betriebe. Tatsächlich ist es für mich als Marxist aber eine wichtige Forderung, daß in diese Konkurrenz auch der Staat einsteigt. Man muß darauf hinarbeiten, daß staatliche Betriebe und Kulturinstitutionen durch diese allgemeine Konkurrenzsituation angestachelt werden. Das ist ein Gebot des sozialen Gleichgewichts.

Gibt es denn gar kein Geschenk, das Kohl den deutschen Bürgern der Sowjetunion diesmal mitbringen kann?

Ich kann mir schon etwas vorstellen. Warum sollen nicht bundesdeutsche Kulturinstitutionen in Zukunft in der Sowjetunion sehr viel stärker aktiv werden? Schließlich haben wir auch unsere Gesellschaft „Rodina“ (Heimat), die russische Emigranten in aller Welt kulturell betreut.

Also ein Goethe-Institut in Kasachstan?

Ich habe davon noch nichts gehört, aber ich will es für die Zukunft nicht völlig ausschließen.

Interview: Barbara Kerneck