Sowjets helfen aus der atomaren Absatzkrise

Mit dem HTR-Vertrag versucht die deutsche Atomindustrie, einen neuen Markt im Osten zu gewinnen / Kompliziertes Vertragswerk auf mehrere Etappen ausgelegt / Baubeginn steht noch in den Sternen / Probleme mit den Exportbestimmungen der „Cocom-Liste“?  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

In Nebel und Nässe froren sich die Vertreter der internationalen Presse vorgestern auf dem Flughafen Wnukowo II die Füße ab, um einen Blick auf den sich der Maschine entwindenden Kanzler zu werfen. Unterdessen scharte sich in den leeren, aber warmen Hallen des Internationalen Pressezentrums ein Grüppchen von etwa 30 Kollegen um vier Spitzenmanager der Firma Siemens, die hierher zu einer kleinen, aber feinen Informationsveranstaltung eingeladen hatten. Anlaß: die Unterzeichnung des Generalvertrags über industrielle Zusammenarbeit, Planung und Bau von Hochtemperatur-Reaktoren kleiner Leistung (Modul-HTR), den die Asea Brown Boveri AG (ABB) Mannheim und der Unternehmensbereich KWU der Siemens AG Erlangen mit der sowjetischen Hauptverwaltung für Atomenergie (Glawatom Energo) ausgehandelt haben. Neben der Unterzeichnung des Drei-Milliarden-Kredits der Deutschen Bank für Gorbatschow ist dies wohl das bedeutendste Ereignis auf dem Gebiet der Wirtschaft, das dem Kohl-Besuch in Moskau Gewicht verschafft. Die deutsche Atomindustrie glaubt, einen Ausweg aus ihrer Absatzmisere in den westlichen Ländern gefunden zu haben: die Hintertür hat die Größe eines Scheunentores und führt in den Ostblock und nach China. Aber nicht nur geographisch soll mit diesem Projekt der Atommarkt erweitert werden, sondern auch technisch: Nicht nur Strom aus dem Mini -Meiler versprechen die Manager aus dem kapitalistischen Westen ihren sowjetischen Partnern, sondern auch Prozeßwärme für die chemische Industrie und Fernwärme zur Verbesserung der Wohnqualität in sibirischen Städten.

Wolfgang Breyer, Sprecher von Siemens/KWU, Emil Baust, Vorsitzender der Geschäftsführung der Hochtemperatur-Reaktor -Bau GmbH, und Isidor Weisbroth als Vertreter der Siemens -Tochterfirma Interatom bemühten sich in Moskau, die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion als Segen für die Menschheit hinzustellen. Breyer scheute sich nicht, den Atomvertrag ausdrücklich in eine Reihe mit einem Abkommen zur Errichtung eines Werkes für medizintechnische Geräte zu stellen, das Siemens in Moskau ebenfalls unterzeichnete. „In beiden Fällen handelt es sich um langfristige Kooperation zum beiderseitigen Nutzen und um einen Beitrag zur Deckung eines elementaren menschlichen Grundbedarfs: in einem Falle zur Deckung des Energiebedarfs und im anderen Falle zur Gewährleistung der Gesundheit“, meinte Breyer.

Die Zusammenarbeit soll sich keinesfalls im Bau dieses ersten Hochtemperatur-Reaktors in der Sowjetunion erschöpfen, auch in Zukunft wollen die beiden Firmen solche Anlagen gemeinsam mit der Sowjetunion bauen und vertreiben, nicht nur dort, sondern auch in nicht näher genannten „anderen Drittländern“.

Was hier in Moskau abgeschlossen wurde, ist ein „Vertrag über Verträge“. Von vier Folgeverträgen wurde nur der erste gleichzeitig mit dem Rahmenvertrag besiegelt: die Vereinbarung einer Lizenzfrist bis Ende nächsten Jahres. Danach soll ein Vertrag über die Lieferung von Montagekomponenten bis Ende 1999 folgen. Weiterhin soll ein Vertrag über das konkrete Reaktorkonzept (Temperaturauslegung) abgeschlossen werden. Der fünfte und letzte Vertrag soll schließlich das Verfahren und die Kooperation beim Beschluß weiterer Folgeverträge festlegen. Schon die Realisierung des ersten Vertrages wird reichlich Zeit in Anspruch nehmen. Der Reaktor soll 1996 in Betrieb gehen, erste kritische Komponenten sollen in zweieinhalb Jahren geliefert werden. Der Bau fällt unter die Gesamtverantwortung der UdSSR, die sozusagen die äußere Hülle hinstellt, (die konventionelle Seite und die Gebäude), während Siemens die Leistungen, die Heliumreinigungsanlage und die Brennelemente-Einlage beisteuert.

Das Herangehen zeigt, daß hier für die „Ewigkeit“ geplant wird. Es zeigt aber auch, daß mit der Unterzeichnung des Vertrages noch lange nicht der Baubeginn eingeläutet ist. Die Frage , ob die Veränderungen in der politischen Lage der Sowjetunion in Zukunft die Siemenspläne gefährden könnten, beantwortete Pressesprecher Breyer zuversichtlich: „Den politischen Aspekt beurteilen wir sehr positiv. Tschernobyl hat im ganzen Ostblock zu einem Umdenken in bezug auf die Kooperation mit dem Westen im Reaktorbau geführt.“ Der deutsche HTR als Antwort auf Tschernobyl? Das Ziel sei nun, die sowjetische Atomtechnik an westliche Sicherheitsstandards heranzuführen. Siemens konnte im Ostgeschäft bislang Erfahrungen auf diesem Gebiet mit der CSSR und Ungarn sammeln. Der bislang bedeutendste Auftrag stammt aus der DDR: Ein radiologisches Umgebungsüberwachungssystem für das Kernkraftwerk Bruno Leuschner.

Doch anders als bei den bisherigen Ostgeschäften treten jetzt Probleme mit den Technologie-Exportbestimmungen auf. Siemens ist bisher recht gut mit der Cocom-Regelung gefahren, die die Exporte bestimmter hochwertiger Technik in Ostblockländer verbietet. In der Vorphase gab die zuständige Behörde in Eschborn für die meisten Elemente des HTR einen zustimmenden Bescheid. Doch es bleibt eine kritische Komponente: die Rechner, die eine „Störfallbeherrschung“ gewährleisten sollen. Auf die Frage, was tun, wenn die Rechner zu Hause bleiben müßten, räumte Isidor Weißbroth von der Interatom nahezu errötend ein: dann besteht die Möglichkeit, daß wir die zweitbeste Lösung nehmen - zum Beispiel einige kleine Rechner statt eines großen. Dieses Eingeständnis, man könne der Sowjetunion eventuell doch nicht die größtmögliche Sicherheit bieten, wurde sogleich abgeschwächt: Bei einem Hochtemperaturreaktor hinge die Sicherheit von der „inneren Struktur“ ab und nicht von den Rechnern.

Gorbatschow und Kohl haben gut daran getan, bei der Unterzeichnung nicht - wie ursprünglich geplant - dabei zu sein. Das Augenmerk der Welt könnte nämlich eine Hoffnung verwässern, die die Siemens-KWU und ABB in ihrem Pressematerial äußern: Mit dem Auftrag wird das in langjähriger Entwicklungsarbeit erworbene Know-how bei Planung von Hochtemperaturreaktoren auf Dauer gesichert und bleibt so für die weitere Nutzung in den westlichen Indutrieländern und in anderen Ländern der Welt erhalten. Mit anderen Worten, die wirtschaftliche Not in den Ostblockländern soll der Atomindustie so lange zu einer Atempause verhelfen, bis die Anti-Atom-Bewegung im Westen die Segel streicht.