„Vergessen Sie diesen Film, er existiert nicht mehr“

Jan van Dieken sprach mit dem sowjetischen Regisseur Aleksandr Askoldov über das Schicksal der „Kommissarin“  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Askoldov, können Sie mir erzählen, was damals, 1967, nach der Fertigstellung mit der Kommissarin geschehen ist?

Askoldov: Vor zwanzig Jahren ist der Film verschwunden, es gab nur eine Vorführung. Dann wurde der Film verhaftet und ging irgendeines Weges. Man sagte mir: „Vergessen Sie diesen Film, er existiert nicht mehr.“ Und weiter sagte man mir, er sei verbrannt worden. Ich schrieb daraufhin einen Protestbrief an die Regierung. Keine Verteidigung, sondern eine Anklage. Die Vernichtung ist ein Akt der Barbarei, und die neuere europäische Geschichte kennt viele Beispiele dieser Art, zum Beispiel Bücher zu verbrennen. Danach kamen die Repressionen, ziemlich harte, und ich mag heute nicht mehr daran zurückdenken.

Wie fanden Sie die jetzt vorhandene Kopie?

Es gab Gerüchte, daß der Film nicht vollständig verbrannt worden sei, und ich glaubte immer daran, daß er noch irgendwo existiere, obwohl er in keinem einzigen Katalog der Filmarchive verzeichnet war. Zehn Jahre später, so um 1977, erfuhr ich, daß unser damaliger Filmminister Die Kommissarin privat vorführen wollte. Es gab auch Gerüchte, daß Mitglieder aus der höheren Administration sich den Film hin und wieder auf ihren Datschas anschauten. Es gelang mir, in eine dieser geheimen Vorführungen zu kommen. Ich setzte mich still und leise in eine dunkle Ecke und dachte, sie würden mich nicht bemerken. Sie können sich denken, daß ich sehr aufgeregt war. Dann erkannte mich der Minister, und seine Helfer schleppten mich aus dem Saal. „Aber es ist doch mein Film. Warum kann ich ihn nicht ansehen?“ rief ich. „Es ist ein sehr schädlicher und hetzerischer Film. Den braucht man nicht zweimal anschauen“, antworteten sie und warfen mich endgültig hinaus. Das war der Moment, wo ich als erwachsener Mensch zum ersten Mal sehr geweint habe.

Nach Gorbatschows Amtsübernahme konnten Sie ungehindert nach ihrem Film suchen?

Ich bin im Sommer 1987 zum Direktor des Filmarchivs gegangen, um ihn danach zu fragen. Und er sagte: „Wieso, was willst du? Hat man Die Kommissarin nicht verbrannt?“ „Gestatten Sie mir wenigstens, nach meinem Film im Archiv zu suchen“, sagte ich ihm, und meine Knie schlotterten dabei. Nachdem er mit ein paar Leuten telefoniert hatte, meinte er, ich solle mal suchen. Aber es sei sowieso aussichtslos. Mit einer Assistentin bin ich dann drei Wochen lang von einem Regal zum anderen gestromert, um nach den Resten des Films zu suchen. Aber es gab keine. Erst eine alte Putzfrau brachte uns auf die richtige Spur. Man hatte ihn in eine Rumpelkammer geschmissen, mitten auf einen wirren Haufen, das Wasser tropfte von der Decke. Als ich auf einer Filmdose die Aufschrift Kommissarin entdeckte, zitterten meine Hände: Negativ- und Positiv-Teile waren darin.

War der Film nicht längst wegen der schlechten Lagerung zerstört?

Er hatte sich allen Gesetzen widersprechend nicht aufgelöst. Natürlich wollten wir den Film nach Moskau transportieren. Aber man sagte, es sei leicht brennbares Nitro-Material, das könne man nicht transportieren. Wir suchten also nach einem Positiv, es gab eines. Wenn auch unvollständig, viele Szenen waren herausgeschnitten. Der Film hatte sogar einen anderen Titel. Auf dem Schneidetisch habe ich dann versucht, die Fragmente zusammenzufügen.

Wie ist Die Kommissarin dann überhaupt ins Kino gekommen?

Niemand hatte ernsthaft vor, den Film öffentlich zu zeigen. Im Juli 1987 fand das Moskauer Filmfestival statt, und alle von der Zensur bislang verbotenen Filme kamen in die Kinos. Aber das Filmministerium bestand weiter darauf, Die Kommissarin nicht zu zeigen.

Nannte man Ihnen den Grund?

Diesmal nicht. Sonst gibt es immer tausend Gründe. Das ist üblich und sehr praktikabel, auch wenn es nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Verleumdung der russischen Revolution und Huldigung an den Zionismus lautete der Vorwurf. Stalins Schauprozesse enthielten ja manchmal über dreißig Anklagepunkte, aufgrund derer Leute erschossen worden sind.

Sie gingen mit ihrem Film trotzdem auf das 87er Festival?

Ja. Es gab eine Pressekonferenz. Dort stellte ein brasilianischer Journalist die Frage, ob jetzt alle Filme, die von der Zensur bislang unterdrückt worden waren, zu sehen seine. Die Filmverantwortlichen der UdSSR hatten mich natürlich gesehen, zumal ich vor der Antwort wohl ein ziemlich komisches Gesicht gemacht haben muß. Als die Frage mit einem „Ja, alle“ beantwortet und in einem Nachsatz von Problemen mit Askoldovs Kommissarin gesprochen wurde, hat mich eine innere Kraft dazu gebracht, mit Vanessa Redgrave, die gerade redete, um das Mikrophon zu streiten. Es war mir nicht klar, daß sie das war, ich wollte bloß etwas sagen, und sie gab das Mikro zuerst nicht her. Erst nachdem sie begriff, wer ich war, rückte sie das Mikrophon heraus. Ich hielt - voll des Mutes der Verzweiflung - eine kleine Rede: „Ich weiß nicht, ob ich einen guten oder schlechten Film gemacht hat, aber ich weiß, daß es ein ehrlicher Film ist. Und ich bitte euch, seht ihn euch an. Wenn bei uns die Demokratie wirklich vorhanden ist, braucht man doch keine Angst vor dem Film zu haben.“ Das Podium war wie versteinert. Vanessa Redgrave sagte laut: „Sie sollen mal versuchen, uns diesen Film nicht zu zeigen. Wir schicken sonst ein Telegramm an Gorbatschow.“ Am 11.Juli, einen Tag nach der Pressekonferenz, hat man den Film dann öffentlich aufgeführt.

Wie war die Reaktion?

Die Presse hielt den Mund, sagte nichts. Aber die Mundpropaganda funktionierte gut. Und ein sehr erfahrener russischer Produzent meinte zu mir, es sei sowieso besser so, dann würden erst recht alle ihn sehen wollen. Heute, wo ich mit dem Film in der Welt herumreise, behaupten dieselben Leute, die den Film für immer verbannt sehen wollten, er sei schon damals zu sehen gewesen. Das ist natürlich Quatsch. Es ist jetzt Mode, so etwas zu sagen. Bei der ersten Vorführung herrschte eine angespannte Stimmung, und ich selbst wollte gar nicht in den Saal gehen. Ich strich wie ein Hund um das Gebäude herum. Als der Film zu Ende war, hätte man eine Stecknadel fallen hören können, Totenstille. Das war mir ganz recht so, denn die Thematik des Films verlangt nicht nach Beifall. Sie erfordert im Gegenteil Nachdenken und Erinnern. Erst als einer zaghaft die Hände rührte, brach ein Sturm los. Auf der Pressekonferenz danach war es mir völlig unmöglich, so über den Film zu sprechen, wie ich das jetzt zum Beispiel mit Ihnen tue. Wie soll einem schon zumute sein, wenn man 20 Jahre seinen Film nicht hat, glaubt, er ist vernichtet, und dann steht da jemand vom San-Francisco -Festival auf und sagt, ich lade Sie und Die Kommissarin nach Amerika ein! Komisch auch, daß schon damals, 1967, einer aus San Francisco bei der einzigen Vorführung gewesen war und mich damals schon eingeladen hatte, obwohl er den Film für eine kommerzielle Niete hielt.

Was ist seitdem geschehen? Sie haben den Film jetzt ja komplettiert.

Die Restauration, das war ein Jahr zermürbender Arbeit. Dabei habe ich beschlossen, daß gar nichts geändert wirt. Kein Wort, kein Montageschnitt. Das Publikum soll Die Kommissarin als ein eigenartiges Dokument aufnehmen.

Wie kommt es, daß Sie in einer Zeit des Übergangs - von Chruschtschow zu Breschnew 1964/65 - noch Geld bekommen haben, diesen Film zu drehen? War Ihnen nicht klar, daß Sie große Schwierigkeiten bekommen würden?

Chruschtschows Entstalinisierungsprozeß hat meine Generation geprägt. Dort beginnt im Grunde die Perestroika. Chruschtschows Fehler - die er zweifellos gemacht hat führten zu seiner Entfernung aus dem Amt. Die Breschnew -Epoche ist ja nicht bloß eine Zeit des Morastes, es gab eben auch eine Phase der Findung, des Übergangs. Es dauerte ungefähr drei Jahre, bis Breschnews Modifikation des Stalinismus so richtig zum Zuge kam, so bis Ende 1967. Es gibt im Russischen dafür einen Begriff: Zwischenschicht. Die Zeit zwischen Tages- und Nachtschicht. In dieser Zwischenschicht ist mein Film entstanden. Damals sind ja noch mehr interessante Filme produziert worden. Man hätte damals schon mit dem anfangen können, was man jetzt tut.

Es gibt im Westen zwei Auffassungen zu Gorbatschow: diejenige, die gerne die kapitalistische Demokratie in der UdSSR einführen möchte, und diejenige, die am Verständnis interessiert ist. Die Bildung des Herzens, das Selbstbewußtsein des Individuums kann doch mit der westlichen Demokratieform nicht soviel zu tun haben, wenn man die russische Revolution ernst nimmt.

Es gibt in der Sowjetunion Menschen, die in der westlichen Demokratie die Lösung aller Probleme sehen. Mit diesen Leuten bin ich nicht einverstanden. Ich bin kein Dissident und will auch keiner sein. Mein Film gehört in die Sowjetunion und die Internationale am Schluß des Films ist mir sehr wichtig. Ein japanischer Journalist hat mich vor kurzem zum letzten Revolutionär Rußlands gemacht. Das ist gewiß eine Übertreibung. Aber meine kommunistische Überzeugung ist ungebrochen, wie bei meinen Eltern. Und deshalb ist die rote Farbe des Banners (im Film, d.V.) mehr als nur Symbolik. Man darf auf die humanistische Kraft und auf die Gründe der russischen Revolution niemals verzichten. Das wäre unsittlich.