Borschtsch

... und Kohl in Moskau  ■ G A S T K O M M E N T A R

Borschtsch, das ist die berühmte russische Kohlsuppe mit viel Rote Beete drin und dazu, wenn's gibt, Fleisch. Kohl in der Glotze, Kohl im Radio, Kohl in der taz, Kohl im 'Spiegel‘. In diesen Moskauer Tagen wird uns der Kohl serviert, in jedem Topf, in jeder Pfanne und auf jedem Teller. Am besten schmeckte Borschtsch mir in Köln, in der Küche bei Raissa Kopelev-Orolowa. Köstliches arme Leute -Essen: Die rötliche Suppe und drüber gekippt ein sanftes weiß, das ist dieser säuerliche feste Rahm, genannt Smeta'na.

Kohl in Rußland - russische Kohlsuppe. Dieser Bundeskanzler verführt zu so kabarettistischen Späßen, er hat so wenig wirklich Eigenes. Bei Strauß kam ich nie auf die abgeschmackte Idee, ihn am Namen zu zotteln. Franz Josef war, wenn die Reise denn schon ins Tierreich gehen soll, womöglich ein Kampfstier, Bulle, ein Schwein, ein Schweinehund, ein Kampfroß, ein starrker und guuter Hirsch, alles, was Gunst oder Mißgunst wollen. Aber ein Vogel, der den Kopf bei Gefahr in den Sand steckt, war Strauß wohl nicht.

Auf dem Hugenottenfriedhof in Ost-Berlin liegt unser schärfster deutscher Kopf, der Philosoph Hegel. Ich habe den Professor oft besucht, er wohnt ja nur zehn Schritt entfernt von Brechts Grab. Dort saß ich mal an seinem geglätteten Granitquader und beklagte mich über Ulbricht, der nicht so wollte wie Chruschtschow. Da verklickerte Hegel mir über die Philosophie der Geschichte etwas tiefsinniges: die sogenannten großen Personen im Drama der Weltgeschichte befördern den Fortschritt des Weltgeistes oft wider Willen und hinter dem eigenen Rücken. Hegel nuschelte badisch und redete dunkelblau preußisch wie immer, aber ich hab ihn verstanden. Die großen Herren verfolgen ihre borniertesten Interessen und befördern dadurch oft gerade das, was sie verhindern wollen.

So auch heute: Kohl. Der Kommunistenfresser hilft dem kommunistischen Revolutionär Gorbatschow aus der Klemme. „Kanonen statt Butter“ - das haben wir erfahren, sind ungesund. Gorbatschow bietet seinen Völkern nun seit zwei, drei Jahren nicht mehr Kanonen an, nun gibt es Wahrheit statt Butter. Und so was kann auch lebensgefährlich werden. Nun wird das Volk frech und frecher, aber der Magen knurrt, es hat immer noch kein Fleisch in der Borschtsch-Suppe.

In den Gruppenfotos aus dem Kreml halten die eigentlichen Hauptdarsteller sich nobel im Hintergrund. Westliche Industrielle und Finanzmagnaten, freiheitlich-demokratisch -grundordentliche Wurstfabrikanten, drei Milliarden schwere Banker, bundesdeutsche Automobilfürsten und allmächtige Herrscher im Reich der Atomindustrie, sie alle treten in dem Theaterstück auf, das in diesen Tagen in Moskau inszeniert wird. Und vorn im Rampenlicht spreizt sich der gewichtige Kleindarsteller aus Oggersheim und hält sich für den Helden. Aber egal, in welcher Rolle, sie alle unterliegen dem Gesetz der Hegelschen Geschichtsdialektik: sie helfen ihm auf, den sie von Hitler erbten, ihrem Erbfeind.

Aber eben genau das ist meine Freude und ist meine Hoffnung auf unser Überleben in dieser Welt. So soll es sein! Die partikulären Interessen bündeln sich wie von weltgeistiger Zauberhand gebündelt zum Guten. Der eine will neue Märkte erschließen, der andere will durch Joint-Venture-Verträge billige Arbeitskräfte im weiten Rußland für den Kapitalverwertungsprozeß einspannen. Der Fleischfabrikant will sich sein Stück Fleisch rausschneiden, und der Fleischkoloß aus Bonn will die nächsten Wahlen gewinnen. Auch die weiblichen Nebenrollen sind gut besetzt. Gorbis Raissa, bei der ich auch mal gern den Borschtsch probieren würde, tanzt mit Helmuts Hannelore anmutig ihre Divertissements zwischen den Hauptstücken. Und der neue Zar Michael, wohin treibt es der Generalsekretär und Präsident, und wohin treibt es ihn? Welche heißen Kastanien des Weltgeistes holt dieser Bonaparte Gorbatschow aus dem Feuer? Welche Finger verbrennt er sich dabei? Und wer darf die Maronen zum guten Ende aufessen? Soviele Fragen. Die Oberen reden miteinander, wir sehen die Bilder, wir hören die Sprechblasen, und wir sind scharf auf den nächsten Schritt. Brecht schrieb in seinem Lied von der Solidarität:

Reden erst die Völker selber

werden sie schnell einig sein

Na ja, das ist auch noch die Frage. Aber das wollen wir probieren, ich will's wissen.

Wolf Biermann