Gorbatschow: „Das Eis ist gebrochen“

Nach dem als Staatsbesuch getarnten Wirtschaftstreffen in Moskau hat eine neue Phase der deutsch-sowjetischen Beziehungen begonnen / Sechs Abkommen, 30 Wirtschaftsverträge und ein Milliardenkredit / Deutsche Atomindustrie setzt Fuß in die Tür der UdSSR  ■  Von Erich Rathfelder

Berlin (taz) - Nun haben die Deutschen auch noch ein Bonbon auf den Weg mit nach Hause bekommen: Mit der Ankündigung, alle vom Westen als politisch eingestuften Gefangenen freizulassen, steht den guten Beziehungen zwischen den Regierungen beider Länder gar nichts mehr entgegen. Jetzt können die Westdeutschen sogar an der für Ende des Jahres geplanten Menschenrechtskonferenz in Moskau teilnehmen und haben ein Argument im Kampf gegen die Kommunisten weniger. Man könnte meinen, die Sowjetunion sei nun auch in den Augen ihrer schärfsten Gegner und Feinde zu einem normalen Staat geworden.

Der Wegfall des größten Feindbildes wird den Konservativen hierzulande noch große Sorgen machen. Die deutsche Delegation kann im Bewußtsein nach Hause reisen, bei einem „historischen Datum“ mitgewirkt zu haben. Die „Wende“ ist geschafft, das „Eis gebrochen“ (Gorbatschow).

Dabei sah das bei der Ankunft Kohls in Moskau noch gar nicht danach aus. Zu tollpatschig wurde überspielt, daß der Kanzler mit seinem Goebbels-Vergleich vor drei Jahren Gorbatschow beleidigt hatte. Und als Kohl bei seiner ersten Tischrede im Kreml gleich in die vollen ging und im Stile deutscher Sonntagsredner auch noch die „deutsche Frage“ beschwor, das „Berlin-Problem“ zum Gradmesser des Entspannungswillens der sowjetischen Führung stilisierte und auf den Rechten der deutschen Minderheit in der UdSSR pochte, schienen die Risse in der Eisdecke schon wieder zugefroren. Der Beherrschtheit Gorbatschows und seinen klaren Worten ist es zu verdanken, daß nicht schon gleich zu Anbeginn die Türen zugeschlagen wurden.

Nicht nur an die Bundesrepublik, sondern auch an die DDR gerichtet, zeigte er den Deutschen auf, daß die Verbesserung der Beziehungen nicht mit einem Handel in der „deutschen Frage“ zu verknüpfen ist. In und um Berlin herum soll aber pragmatisch verfahren werden. Dem für die „Heimat“ bestimmten Wahlkampftenor des Oggersheimers wurden Grenzen gesetzt. Die eigentlichen Gespräche konnten dann beginnen.

Unkritische Modernisierungsideologie

Insgesamt sechs Abkommen und rund 30 Wirtschaftsvereinbarungen, darunter der Drei -Milliardenkredit für die Sowjetunion, sind unterzeichnet worden. Die schon bestehenden Joint-Ventures, die Beteiligungen von deutschen an sowjetischen Firmen also, sollen bald abgesichert sein. Mit der Ankündigung, bei dem Besuch Gorbatschows im nächsten Jahr in der Bundesrepublik ein Investitionsschutzabkommen abzuschließen, werden weitere deutsche Firmen motiviert, auf den anrollenden Zug des Ostgeschäftes aufzuspringen. Die Modernisierung der sowjetischen Industrie vor allem im Konsumgüterbereich sind nun keine prinzipiellen Grenzen mehr gesetzt. Und mit dem Hochtemperaturreaktor nimmt die Sowjetunion sogar eine Technologie ab, die in der Bundesrepublik nur sehr schwer durchzusetzen ist. Der Schwäche der Antiatombewegung im russischen Herzland und der unkritischen Modernisierungsideologie der sowjetischen Reformer ist es zu „verdanken“, daß die Sowjetunion zu einem Experimentierfeld für die deutsche Atomindustrie wird.

Daß nun auch ein Kulturinstitut und ein „Haus der Deutschen Wirtschaft“ in der sowjetischen Hauptstadt aufgemacht wird und ab 1989 jährlich 1.000 Sowjetbürger zur Aus- und Fortbildung in die Bundesrepublik kommen dürfen - die natürlich für die Joint-Ventures gebraucht werden -, rundet das Bild ab, das für einen neuen Start benötigt wird.

Bei der Modernisierung der sowjetischen Industrie ist den Westdeutschen jetzt sichtbar eine wichtige Rolle zugewachsen. Die „gute Atmosphäre“ ist da vorausgesetzt und zwang Gorbatschow, dem ungeliebten Kanzler die Hand zu reichen. Im Konzert mit anderen westeuropäischen Staaten auch die italienische und französische Führung sind am Ball

-setzt die Sowjetunion nun auf die EG. Wenn Gorbatschow noch vor Monaten seine Bundesgenossen in den anderen sozialistischen Ländern vor der Ausweitung des EG -Binnenmarktes warnte, so ist nun die Tür für diesen Markt selbst aufgestoßen. Die Bemerkung Kohls, die Bundesrepublik betrachte den westeuropäischen Binnenmarkt nicht als „neue Grenze“, ließ zwar die Konflikte unerwähnt. Die wachsenden wirtschaftlichen Interessen auf dem Zukunftsmarkt Sowjetunion werden die Weichen auch in der EG neu stellen. Auch mit Hinblick auf die Cocom-Liste, die die Ausfuhr wichtiger Güter aus der Sowjetunion verbietet, wollen die Deutschen einen neuen Anfang setzen. Kohl kritisierte mit Blick auf die USA sogar, daß es nicht anginge, die Cocom -Beschränkungen zur „Ausschaltung wirtschaftlicher Konkurrenten“ zu benutzen.