Unendlicher Leserbrief

■ Kazimierz Brandys‘ „Rondo“ - Ein Roman über eine Widerstandsorganisation, die geschaffen wurde, um nicht zu existieren

Sie leben in einer Zivilisation, wir leben in einem Drama,“ notiert der polnische Autor Kazimierz Brandys im Dezember 1980 während eines Aufenthalts in Westberlin in sein Tagebuch. Heute lebt Brandys in Paris. 1982 erscheint sein Roman Rondo in einem polnischen Untergrundverlag, 1986 in italienischer und 1988 in deutscher Übersetzung.

Rondo: Ein Drama in Prosa auf dem großen Theater der Geschichte und dem kleinen der Biographie. Der Ich-Erzähler ist unter anderem Jura-Student, Fähnrich der Reserve und Statist an einer Warschauer Bühne im Vorkriegspolen. Leben und Theater verschränken sich rückblickend zuweilen zu ironischen Lakonismen: „1936 mußte ich mich von den Proben zur Hochzeit befreien lassen, weil ich zu Winterübungen des Regiments einberufen worden war, konnte aber bei der Premiere doch noch als Bauernbursch mit Sense und im weißen Rock auftreten.“

Zudem rankt sich um ihn eine Legende, ein unehelicher Sohn des Marschalls Pilsudski zu sein. Nach dem Ausbruch des Krieges und der Okkupation durch die Nazis schlägt er sich als Garderobier eines Cafes und Schieber von Gemälden herum. Er operiert in verschiedenen mit der Londoner Exilregierung verbundenen Widerstandsgruppen im Untergrund.

Formal beginnt der Roman als Leserbrief an eine Zeitschrift zwecks Richtigstellung eines Artikels über die Widerstandsorganisation „Rondo“. Doch in der erinnernden Reflexion des Schreibers wächst er sich allmählich aus zur umfassenden Autobiographie: „Als ich gestern das Typoskript durchsah, wurde mir bewußt, daß ich meine eigene vie romancee verfasse, natürlich für mich alleine. D.h. aber keineswegs, daß ich auf Sie als Adressaten verzichte, im Gegenteil, ich brauche Sie weiterhin, bin mir auch gar nicht sicher, ob ich wirklich für den privaten Gebrauch schreibe.“ Das heißt auch: wie der Briefschreiber den Empfänger braucht der Autor den Leser (Brandys hat den Roman in den siebziger Jahren noch in Polen geschrieben.)

Literarische Fiktion und Erinnerung, Erzählung und nachträgliche Betrachtung des Erlebten, Porträts, detaillierte Ortsbeschreibungen und die Wiedergabe politischer Diskussionen durchdringen sich unablässig. Sie verweben sich zu einer dichten Schilderung des Klimas jener Zeit, einer Zeit des Umbruchs, die die Menschen in ihrer sozialen Stellung, in ihren Lebensweisen, Wertvorstellungen und Umgangsformen vollkommen umkrempeln wird. Wir haben es nicht so sehr mit einem Fresko der Epoche wie mit einem Steinbruch der neueren polnischen Geschichte zu tun, der Ausbruch des Krieges ist einschneidend, er wird erlebt als brutales „Ende der Gegenwart“: „Im September '39 endet der Roman, im Oktober '39 beginnt der andere, aber beide gehören extrem unterschiedlichen stilistischen Gattungen an...“

Die Zeit des Romans ist die Zeit des Briefeschreibers, der sich erinnert, dessen Gedächtnis mehr oder weniger belichtete Stellen aufweist. Wie der Freudsche Wunderblock sind sie überschrieben durch Späteres aus der Zeit der stalinistischen Verhöre und des „Tauwetters“ bis hinein in die Gegenwart des Schreibens. Dieser unendliche Leserbrief stellt mit seinen unzähligen Abschweifungen den überzeugenden literarischen Versuch dar, die eigene Identität und Ethik in den verschiedensten historisch-politischen Konstellationen immer wieder neu zu bestimmen, immer wieder neu zu verorten. Dies geschieht vor allem in Auseinandersetzung mit seinem Jugendfreund Wladek Sznej, Autor jenes Zeitschriftenartikels über „Rondo“, der ursprünglich richtiggestellt werden sollte, Lieblingsschüler seines Vaters, Intellektueller und Ideologe, der während des ganzen Romans die Rolle des „advocatus diaboli“ innehat, und dem nach dem Tode des Ich-Erzählers, den er „sicher überleben wird“, das vollständige Typoskript übergeben werden soll. Wladek war immer so etwas wie ein guter „Zeitleiter“ - in dem Sinne, wie Metalle gute Stromleiter sind: jemand, „der die Strömungen der Zeit durch sich hindurchläßt, sich an ihnen erhitzt und verglüht“. Der Autor jedoch versucht, eher ein Widerstand zu sein. Weniger rationalistisch als sein Freund und Gegner sucht er diffus nach dem, was eine Verkettung biographischer Zufälle nachträglich als notwendig erscheinen läßt. „Wenn nicht jedes Leben Schicksal ist, und wenn es stimmt, daß es diesen Rang erst bekommt, wenn es begriffen ist, dann bezeichnen wir diese Ausschweifung eben als den Versuch, meiner Biographie eine Beförderung zu erwirken.“

Aber was war nun „Rondo“ wirklich? Es beginnt mit einer Paradoxie: „Rondo“, die Widerstandsorganisation, „wurde geschaffen, um nicht zu existieren“. „Rondo“ wurde ins Leben gerufen, um jene Frau zu retten, der der Erzähler „sein Leben geopfert hat“: die Schauspielerin Tola Mohocy, schicksalhafte Liebe, Mutter seiner Tochter. Sie wurde mit Koffern voller alter Kriminalromane als „Kurier“ über Land geschickt, im Glauben, deren Einbände enthielten Kassiber für den Widerstand. Doch diese Fiktion einer Widerstandsorganisation, benannt nach einem Klavierstück Chopins, verselbständigt sich, gewinnt Mitglieder und lädt sich mit Bedeutung auf. RONDO ist Abkürzung für „Reserve -Organisation der Obersten Führung“ (polnisch: Rezerwa Organizacyjna Naczelnego Dowodztwa), meint Wladek Sznej. Rondo hat mit der Handlung eines guten Romans gemein, in der Existenz fiktiv, in der Wirkung real zu sein. Marianne Karb

Kazimierz Brandys, Rondo, Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Luchterhand, Darmstadt 1988, 36 Mark