Odysseus als tapferer Pirat

■ Kompromißstrategien in Rainald Goetz‘ Roman „Kontrolliert“

Thomas Groß

Zunächst ist Rainald Goetz‘ neuer Roman ein Buch mit Wiedererkennungswert. Ein echter Goetz: Der Titel Kontrolliert grüßt jedem, der an drei Zeilen des Autors geschult ist, wie ein alter Bekannter entgegen. Die Aufmachung mit Autorenbildchen vorne- und Leitspruch hintendrauf wie auch der triptychonartige Aufbau zitieren den Erstling Irre. Und daß das alles etwas mit dem Jahr '77 und der RAF zu tun haben soll, überrascht nach all den Raspes und Stammheimers, die den Goetz-Kosmos bevölkern, genausowenig.

Weiter reingelesen, ergibt sich zunächst das gleiche Bild. Man erfährt, was man vom Autor schon weiß: daß er unter Grübelzwang leidet; daß er sein Denken gern vollkommen unter Kontrolle hätte; daß er eine Vorliebe für Schnapszahlen hat (z.B.7.7.77); daß er in der Schule immer so gut war; daß er sich in männlichen Debattierzirkeln am wohlsten fühlt; daß er keine „sogenannten Frauen“ mag, usw. Verabreicht wird das in der bekannten Sprache des autobiographischen Pathos, der monströsen Syntax und der doppelten Moppelung („aufgeöffnete Öffnung“ u.ä.). Fällt Goetz nichts mehr ein, ist er ausgeschrieben?

Diese Frage stellte sich nicht so hart, wäre Goetz einer jener Autoren, die der schwindenden Bedeutung des geschriebenen Worts eine hartnäckige Serienproduktion ein und desselben Buchs entgegensetzen. So aber gilt es den Ruf zu verteidigen, „Deutschlands extremster Schriftsteller“ (Tempo) zu sein, und das ist ein hartes Geschäft. Denn der vielbeachtete Klagenfurter Stirnschnitt, mit dem Goetz sich 1983 in die literarische Öffentlichkeit katapultierte, schuf eine paradoxe Ausgangslage. Zum einen band er den Text an einen leibhaftigen Autor zurück, dem es offenbar rasierklingenernst war in Gedanken, Worten und Werken. Nicht um dürre Buchstaben, nicht um unverbindliches Spiel mit der Phantasie sollte es mehr gehen. Hier gab einer sein Blut ans Schreiben, was die Rezeptionshaltung in Richtung Resakralisierung und Kommunion zurücktrieb. Gleichzeitig aber wurde eine innige Beziehung mit der Inszenierung, dem Theater-Coup eingegangen, dem diese Art des autorbezogenen Schreibens seither hinterherjagen muß. Trotz Kraftmeierei und Kritikerbeschimpfung ist sie immer in der Verteidigungsposition. Ihre Waffe ist die Evidenz der großen Sprachgeste, die schnöde diskursive Begründbarkeit stets neu abweisen und gleichzeitig übertrumpfen muß. Ihre Gegner sind die Kritik als Mortifikation der Werke und eine umgekehrte Evidenz, in der die angestrengte Pose sich sehr schnell aufs normal beknackte Maß zurechtstutzt. Nicht zuletzt deshalb enthält die Verehrung durch eine angewachsene Kulturgemeinde einen versteckten destruktiven Kern, der nach dem Schnippchen verlangt, auf erneute Überbietung oder aber Abschluß des Werks drängt, und sei es durch den (Legenden aller Art begünstigenden) Rock'n-Roll-Tod als letzten Trumpf des poete maudit.

Vielleicht ist es diesem Erwartungsdruck zuzuschreiben, daß im Roman so häufig und ostentativ vom Selbstmord die Rede ist. Doch nicht nur das. Ich meine, daß Kontrolliert als Kompromißprodukt aus den paradoxen Anforderungen zu verstehen ist, die das Autorenimage seit seiner Konstituierung als Medienereignis mit sich herumzuschleppen hat. Vordergründigstes Beispiel dafür ist der Bezug zur RAF, der keiner ist. Es hat einen Zug von Verzweiflung, wie Goetz sich assoziativ am historischen Ereignis der Schleyer -Entführung und ihrer Folgen entlanggebärdet. Achtung, jetzt kommt's! sagt ständig etwas im Text, bloß nicht verpassen, jetzt schreibe ich nämlich Volksgefängnis ohne Anführungszeichen, jetzt setze ich zur rituellen Staatsbeschimpfung an, usw. Erst gegen Ende bringt Goetz einige nicht allzu neue Überlegungen zum Scheitern der RAF, die allerdings immer wieder ins unfreiwilig Komische abgleiten: “...am Schluß schauen in Wirklichkeit alle gleich alt aus, die einen sind tot, und die anderen sind den Rest der Zeit Mörder“ (gemeint sind die RAF und der Staat). Was wie Unfug klingt, mag zwar vom Erzählkonzept des Romans (Negation der Gedankensynthese, so verquer der Einzelgedanke sich auch herauszwängt) abgefedert sein; der Eindruck bleibt, daß der ganze Zauber hauptsächlich dazu dient, daß immer harmloser werdende Buch-Medium (und damit den Autor) noch einmal die Aura von Gefahr atmen zu lassen: „Fasziniert schaut man auf alle, die nicht die Redekrankheit haben, die man selber hat, sondern umstandslos zuschlagen.“ Weil geschriebene Rede nicht Ereignis werden kann, klammert sie sich parasitär ans Bild des Terrors.

Doch unterhalb des Knalleffekts zieht sich, und das ist eher neu bei Goetz, ein durchweg kleinlauter Ton durch den Roman. Gleich zu Beginn das Eingeständnis eines Scheiterns. „Ursprünglich sollte hier der Staat verhandelt werden“, aber das war denn doch zuviel. „Das meiste bisherige kommt mir schon wieder so verlogen, so übertrieben vor“, resümiert Goetz nach 38 Seiten, in denen ihn „denkenähnliche Gedanken quälen“. Er hofft auf die „nichtidiotische Substanz“ in sich und macht halt weiter, denn „das Hirn hält den Mund nicht, da kann man wollen, was man will.“ Sätze, die wie Rechtfertigungen klingen, einem polemischen Zugriff vorbeugen, indem der Autor schon mal präventiv mit sich selbst ins Gericht geht.

Am allerwenigsten aber will er mit der Pop-Kultur noch irgendetwas zu tun haben. Nur eine zeitlang war sie der Goetz-Imago dienlich, jetzt droht die latente Beliebigkeit der wechselnden Moden mit Zersetzung. Plötzlich sieht Goetz statt bunter Bilder nur noch Fäulnis und Verwesung. Plötzlich fällt ihm auf, daß diese hingeworfenen Pop-Artikel und oft auch seine eigenen Ohrwatschereien ja sprachtheoretisch gar nicht reflektiert sind. Schleunigst wird das nachgeholt. Ab in die Reflexionsschleifen der Moderne, lautet der Tagesbefehl, von dessen Umsetzung vor allem der erste Teil des Romans zeugt. Aber Goetz wäre nicht Goetz, hätte nicht auch diese Rückwendung einen Beigeschmack von Erbüffeltem. „Tatsächlich erstrangige Gehirne bleiben nicht beim Hirnkrampf stehen“, sagt er sich vor. Prompt zerfallen ihm die Wörter wie modrige Pilze, ruckzuck stellt sich ein Nietzsche-Tenor ein. Als ginge es ihm immerzu nur darum, eine Eins zu schreiben, egal in welchem Fach. Als sei das Ziel der Selbstumbau vom leicht angeschlagenen Pop -Heiligen zur grundsoliden, wenngleich natürlich nicht uncharismatischen Suhrkamp-Koryphäe.

So sieht es aus. Und doch ist dieser Anschein nur Nebeneffekt des Zwangs, hinter den Buchstaben immer wieder den heroischen Selbstentwurf vom leibhaftig leidenden Schreiber aufblitzen zu lassen, dessen Transubstantation das Buch sein soll. Möglich ist das nur als todernste Inszenierung, die sich nun am Traditionsfundus bläht. Deshalb verfehlt es den Sachverhalt auf grobe Weise, wenn F.C.Delius Goetz im 'Spiegel‘ „postmodernen Opportunismus“ vorwirft. Denn noch da, wo Goetz‘ Texte opportunistische Züge annehmen, sind sie ihrem Impuls nach heftigste Negation dessen, was austauschbar oder gar „postmodern“ zu scheinen droht. Ihr leuchtenstes Ziel ist die mit Wahrheits-Drive einschlagende Evidenz, die die finsteren Verstrickungen der Beliebigkeit schlaglichtartig erhellt und durchkreuzt. Der Zeitgeist soll dabei das quasi-natürliche Substrat abgeben, auf dem der listenreiche Odysseus als Pirat dahinsegelt, die Nase hart im Wind, im Grunde aber doch darüber: „Kommt der Wind von vorne, kann man kreuzen gegen ihn, denn es gibt schon neue Schiffe, die seitwärts hart am Wind fahren mithilfe neuartiger Segel. So zieht die Seestern rauschend dahin, hoch oben in der Spitze ihrer stolzen Takelage vom roten fünfzackigen Stern geschmückt und vom piratenschwarzen nackten Schädel in der Flagge.“

Diese Vision hört sich an wie ein romantischer Adoleszententraum; und doch gibt sie ein Modell ab für Goetz‘ wohl wichtigsten und (mir) symphatischsten Schreibimpuls: Eine Art Kinderzorn, der dem richtigen, dem wahren Leben und der guten Sache durch alle Fährnisse der immer komplizierter werdenden Zeiten hindurch zum Sieg verhelfen will. Eine der treffendsten Passagen von Kontrolliert beschreibt, wie im sonntäglichen Terror des katholischen Elternhauses das „Konzept Tapferkeit“ entsteht. „Wenn man in der Kirche zappelt, kriegt man von hinten eine Kopfnuß, die einem trotz Stolz und Heldentum die Augen heiß macht, weil sie so brutal war, daß man meint, der Kopf zerreißt... Ausdauernd hofft man auf die Macht der guten Gedanken, die sich nur genügend konzentrieren müßten frühmorgens, wenn man ängstlich lauschend wachliegt, und plötzlich wäre die Stille einfach weg...“ Magische Gerechtigkeit gegen den Überdruck der Welt. Doch Wünschen hilft nicht immer, und für dieses Mal hat Odysseus sich in der Takelage verheddert.

Rainald Goetz: Kontrolliert. Roman. Frankfurt 1988. Suhrkamp Verlag. 281 Seiten, 28 Mark