Ein weiblicher Castaneda

■ Lynn Andrews‘ „Sternenfrau“

So, wie die Jungs ihren Castaneda hatten, haben wir jetzt unsere Lynn Andrews. Munkelte man von Carlos immer, er sähe aus wie ein verkniffener Bankangestellter von der Ostküste, haben wir es bei Frau Andrews mit einer wahrhaft südkalifornischen Westküstenschönheit zu tun. Blond und lockig umrahmt das Haar ein Gesicht, welches wir eher in einem Fingernägel-Aufpepp-Institut auf dem Rodeo Drive in LA vermuten würden, als es uns vorzustellen, wie es unter ungeheuren Anstrengungen in der Einöde Kanadas versucht, spirituelle Einweisung und körperliche Ausdauer zu erlangen.

1973 traf sie zum ersten Mal auf die Heyoka (Medizinfrau) Agnes Whistling Elk, eine Cree-Indianerin in der nordkanadischen Tundra; Eine Middle-class-Schickse lernt als erstes, wie man einen getöteten Hirsch ausweidet, wie man ein Stück vom noch warmen Herz herausschneidet und roh verzehrt, erfährt einen unfreundlichen Empfang von zwei hartgesottenen alten Zauberinnen und ist konfrontiert mit einer Welt, die nach anderen Regeln funktioniert als die ihr bisher vertraute.

„Als Jägerin bist du auch die Gejagte, begreife doch, daß der Wille kein Geheimnis ist. Es ist ganz einfach. Der Wille träumt das Gleichgewicht und öffnet die Schädeldecke“.

Es geht bei ihrer ersten Reise um einen Hochzeitskorb, den Lynn Andrews in LA visionierte und den sie in Kanada einem Zauberer stehlen muß. „Der Korb, von Träumern geflochten, stellt die unaussprechliche Leere dar“, berichtet es Agnes Whistling Elk, Mitglied der „Schwesternschaft der Schilde“ (einem Geheimbund, der auf alten Weiblichkeitskulten beruht), „und diese Leere wiederum ist der Uterus. Alle Dinge sind aus der Leere entstanden, und die Leere ist die Frau. Als Gleichgewicht wurde der Mann dazu erfunden seitdem die Männer die Leere gestohlen haben und sie als ihr Eigentum ausgeben, ist die Erde in einem gefährlichen Ungleichgewicht.“

Sie lernt, niemals mehr aufrichtig „Dankeschön“ zu einem Mann zu sagen, da es Macht raubt; sie lernt, daß ihre Überzeugungen nicht notwendig wahr sind, auch wenn sie glaubt, daß sie es seien. Über die Qualität von politischer Agitation wird sie von Agnes unterrichtet, als jene sich auf eine Weide stellt und brüllt: „Kühe aller Länder vereinigt euch, ihr habt nichts weiter zu verlieren als eure Ketten„; sie lernt, ihre Leere reifen zu lassen und ihrer Macht gewahr zu werden, sich selbst nicht als individuelles Wesen zu begreifen, weil es das ist, was die Kraft schwächt; sie lernt, mit den Geistern der Elemente, Tiere und Pflanzen zu gehen und die Energie aus der Erde zu atmen. Trauernd erfährt sie, wie sinnlos es ist, sich für wichtig zu halten, statt wichtig zu sein. Sie lernt, tatsächlich gefährlich zu werden, indem sie ihren Tod akzeptiert. In der Welt der Heyoka gibt es kein „aus Versehen“ - diese Angewohnheit, die Verantwortung für das eigene Tun abzugeben. Es geht darum, vom „unfähigen Wesen“ zum „vollkommenen Jäger“ zu werden; nicht bei jeder schillernden Entdeckung „Aha!“ zu sagen und das Glitzerding aufzuheben. Es geht auch immer wieder darum, sich den Tod zum Verbündeten statt zum Feind zu machen, die Macht zu verstehen, die andere Menschen einsetzen, die eigene Kraft zu rauben, vor allem aber die Unfähigkeit zu begreifen, mit der man sich immer wieder Energien absaugen und rauben läßt.

Lynn Andrews‘ bisher vorliegende vier Bücher sind eine phantastische Sammlung der schönsten Geschichten und Bilder aus jenen anderen Welten, die wir nur selten und in gnadenreichen Zeiten erfahren dürfen. Sie wecken Sehnsüchte nach Blickwinkelerweiterung, nach größeren Herzen und aufnahmefähigeren Geisten. Sie erinnern an die eigene Faulheit und freiwillige Gefängnisaufenthalte. Daran, daß es immer wieder einfacher ist, sich im gewohnten Sumpf an den eigenen Haaren herauszuziehen, als den Blick über die offene Steppe zu wagen.

In Die Sternenfrau, dem zuletzt erschienenen Bericht über die Lehrjahre bei Agnes Whistling Elk, geht es um die Kunst der Verwandlung innerhalb des Bewußtseins weiblicher Kraft. Wenn wir erst einmal gelernt haben, uns von niemandem die „glücklichen Jagdreviere“ unseres Geistes zerstören zu lassen, die uns befähigen, klares Wasser, grünes Gras und fette Beute zu finden, dann können wir uns, wohin und in wen immer wir wollen, verwandeln.

In einer Medizinrad-Geschichte geht es um die Beziehungen und ihre Bewegungen. Bei uns finden sie hauptsächlich zwischen Ost und West statt. Osten, der Ort des Verstandes Westen, Heimat der Gefühle.

Männer und Frauen treffen sich meistens im Süden, der das körperliche, die Materie repräsentiert. „Leider ist es oft so, daß zwei Menschen, die miteinander schlafen, zum ersten Mal seit ihrem dritten Lebensjahr wieder mit allen Sinnen wach werden. Die Wiederbegegnung mit dem Instinkt und dem Geist ist für sie so überwältigend, daß sie glauben, sich zu lieben, und sie heiraten.“ Und dann werden sie zurückgeworfen in ein Leben, das sich nur noch aus Ost-West -Bewegungen zusammensetzt. „Du empfindest das und das, und ich glaube das und das. Und ständig gibt es Diskussionen darüber, was ich dazu meine, was der andere gesagt hat, und wie der andere findet, was ich dazu meine.“

Wo liegt die Vernachlässigung? Weit ab vom Schuß unserer Ost-West-Ziellinien liegt der Norden: Intuition und Geist. Erleuchtung, Intuition und Geistigkeit wachsen nur in der Nord-Süd-Bewegung - nur dort ist die Transformation tatsächlich möglich. Wenn wir ohne diese Bewegung leben, berauben wir uns unserer Seele und haben das Gefühl zu sterben. Manchmal, in eben diesen erwähnten gnadenreichen Zeiten, da dürfen wir den Geschmack von Nord-Süd-Bewegungen kosten, und dann wundern wir uns und leiden, wenn wir ihn nicht immer wieder neu in den Sinnen erleben.

In den Arbeitspausen schaue ich beim Lesen aus dem Fenster und merke, daß schon bald wieder ein Jahr vorbei ist und ich noch immer nicht weiß, wie es ist, einen toten Hirsch auszuweiden, und noch immer nicht weiß, wie der Geschmack vom warmen, toten Herz sich im Mund anfühlt. Der Blick aus dem Fenster erlaubt eine für die Stadt luxuriöse Quadratmeterzahl meines Klausenerplatzes mit Bäumen, Sandkasten und den Sitzgelegenheiten für die Männer, die jeden Mittag von der Kirche nebenan umsonst eine warme Mahlzeit bekommen.

Eine traurig lächerliche Vorstellung, dort, zwischen Tischtennisplatten, Bierdosengefühlen und Abfalleimern eine Heyoka zu treffen. Das Leben wird sich verändern, wenn man es läßt.

Renee Zucker

Lynn Andrews, Die Sternenfrau, Sphinx-Verlag, 320 Seiten, 36Mark (ebenfalls bei Sphinx: Die Jaguarfrauen und Der Flug des siebten Mondes; Die Medizinfrau gibt es als Rowohlt -Taschenbuch)