Bericht aus einem anderen Land

Der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident und „furchtbare Jurist“ Hans Filbinger, der 1976 wegen seiner in NS-Zeiten gefällten Todesurteile zum Rücktritt gezwungen wurde, durfte seinen 75.Geburtstag im Kreise Gleichgesinnter als „Hoffnungsträger“ Deutschlands feiern  ■  Aus Würzburg Erich Kuby

Die Regie hätte wirkungsvoller gar nicht sein können. Dabei gab es gar keinen Regisseur, der Zufall hatte es so gefügt. Am frühen Morgen des 24.Oktober stieg ich in München in den Zug nach Würzburg ein, und weil es Montag war, hatte ich als Reiselektüre den neuen 'Spiegel‘. Soweit die taz-Leser auch den 'Spiegel‘ lesen, wissen sie, daß sie auf dessen Titel ein Farbfoto betrachten können, auf dem an einem Tisch, der irgendwo im Kreml steht, sich ein lächelnder Gorbatschow mit einem lächelnden Augstein unterhält. Eine Sternstunde des Journalisten Augstein ist hier festgehalten, ob sich dahinter auch eine Sternstunde der Beziehungen zwischen Moskau und Bonn ausmachen läßt, ist so ganz sicher noch nicht; aber man darf es auch nicht für völlig ausgeschlossen halten, denn ein nicht weniger lächelnder Gorbatschow gab unmittelbar darauf Herrn Kohl die Hand, na, und so weiter.

Ob das 'Spiegel'-Land, das heißt das Land, die Welt, die dieses Blatt seinen Lesern jede Woche serviert, auch mein Land ist, ob ich der Ansicht bin, das Blatt Augsteins vermittle mir die Wirklichkeit der Welt, bleibe hier ganz unbeleuchtet. Sicher ist, daß dieses 'Spiegel'-Land eine Gegend ist, in der wir alle leben, und das gar nicht so schlecht. Wir können uns eine bessere Welt malen, sie ersehnen, dafür etwas tun, wenn wir etwas dafür tun können jeder kann etwas dafür tun -, aber wir können sie nicht herbeizaubern.

Bis Würzburg hatte ich Zeit genug, alles zu lesen, was im Inneren des Blattes über das Thema Gorbatschow und die Westdeutschen stand, unter denen sich in Moskau auch eine ganze Kompanie sogenannter Wirtschaftsführer befand.

Toscana-Land

In Würzburg angekommen ließ ich mich zu diesem 400-Zimmer und Säle-Häuschen fahren, von dem Napoleon einst gesagt hat, es sei das schönste Pfarrhaus in Deutschland, nämlich zur Residenz der Fürstbischöfe, im wesentlichen geplant und erbaut von Balthasar Neumann, begonnen im Mai 1720. An einem Seitentor war ein Schild mit Pfeil angebracht, darauf stand „Symposion“. Ich folgte dem Pfeil, stieg zwei Treppen hoch und befand mich in einem nicht allzu großen, wundervoll restaurierten Saal, der deshalb Toscana-Saal heißt, weil zu Napoleons Zeiten, nachdem er den bayerischen Kurfürsten zum ersten bayerischen König und damit zu einem unmittelbaren Vorfahren von Franz Josef Strauß gemacht hatte, hier vorübergehend der Großherzog Ferdinand von Toscana wohnte, ein Freund Napoleons und Bruder des österreichischen Kaisers. Mit einem Wort, das Ambiente des „Symposions“ hätte gar nicht feiner und feierlicher sein können. Das war dem Anlaß angemessen, denn was hier gefeiert wurde, geschah zu Ehren des 75.Geburtstages von Hans Filbinger. Dazu hatte sich eine Hundertschaft blaugewandeter Herren und eine Handvoll zu ihnen gehörender Damen eingefunden, und das ganze war eine Erfindung des zu Würzburg lehrenden Professors Dr.Lothar Bossle.

Nun hätte mich dieser Dr.Bossle allein, der sogar im Würzburger Milieu gelegentlich ob seiner allzu rechten Gesinnung aneckt, nicht veranlaßt, am 24.Oktober in Würzburg zu sein. Nicht einmal der 75.Geburtstag des ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, der unter nicht eben großartigen Umständen seinen Hut hatte nehmen müssen, wäre mir dazu ein ausreichendes Motiv gewesen, hätte es da nicht ein Programm gegeben zu dem Thema „Die Existenz des Menschen im 20.Jahrhundert zwischen totalitärer Diktatur und parlamentarischer Demokratie“ und dazu eine Rednerliste:

10.30 Uhr Gerhard Löwenthal: Hans Filbinger - ein Hoffnungsträger in schwerer Zeit,

11 Uhr Ministerpräsident a.D. Prof. Dr.Hans Filbinger: Ermutigung zur deutschen Zukunft - die Botschaft der Kriegsgeneration,

12.30 Uhr Prof. Dr.Hermann von Berg: Zur Desinformation totalitärer Herrschaftsapparate gegen Träger demokratischer Verantwortung.

Am Nachmittag des ersten von zwei Tagen:

15 Uhr Prof. Dr.Karl Steinbuch: Macht ohne Verantwortung.

Der Nachmittag endete mit einem Podiumsgespräch, an dem gleich zwei Ministerpräsidenten a.D. teilnahmen, außer Filbinger Dr.Alfons Goppel, dem Strauß übel mitgespielt hatte. Dabei ging es um den „Aufbau der Bundesrepublik Deutschland nach 1945“. Am zweiten Tag kam auch ein General a.D. dran über „die Rolle der Streitkräfte im demokratischen Verfassungsstaat und in der totalitären Diktatur“. Wetten, daß sich jedermann vorstellen kann, was er sagen würde? Ich konnte es mir vorstellen und schenkte mir diese geistige Erhellung. Überhaupt handelte ich nach dem Grundsatz, man müsse nicht den ganzen Ochsen essen, um zu wissen... na, und so weiter. Was da an Ochsenfleisch geboten wurde, war ohnehin eher abgetragenes Stiefelleder.

Sektenprediger

oder Wortführer?

Schon der Anblick der illustren Versammlung, Durchschnittsalter über 50, ließ in mir die Vermutung aufkommen, daß ich mich nicht mehr im 'Spiegel'-Land befand. Nach ein paar Stunden fragte ich mich, ob ich mich überhaupt noch in der Bundesrepublik befände. Wenn ich mir dessen ganz sicher gewesen wäre, daß das, was ich im Toscana-Saal mithörte, nur dort stattfand; oder anders gesagt: daß ich es mit einem isolierten Narrenhaus zu tun hatte, einer geschlossenen Anstalt, dann säße ich jetzt nicht an der Schreibmaschine, um der taz zu berichten. Das wäre dann ganz unnötig. Aber dessen bin ich mir nicht ganz sicher, obwohl diese Bundesrepublik, in der die Exponenten eines konservativen Regimes nach Moskau wallfahrten wie die Moslems nach Mekka, eigentlich annehmen ließe, „Toscana -Land“ sei äußerst dünn besiedelt. Aber es gibt auch genug Anzeichen dafür, daß sich unter der Decke von Ratio und Geschäftemacherei um jeden Preis, vor allem um den Preis der Preisgabe deutschnationaler Gesinnung - die uns sogar unser hochverehrter Bundespräsident wieder einimpfen will - das nationale, und das heißt das mehr oder weniger verrückte Deutschland, wieder restituiert. In diesem Falle wären die Redner des „Symposions“ eines Tages eben nicht mehr isolierte Sektenprediger, sondern tatsächlich jene Wortführer, als die sie sich selbst vorkommen.

Natürlich trat als erster der Initiator der ganzen Sache, jener Professor Bossle, ans Pult. Er feierte den Jubilar und beklagte, was jener erlitten, und bewunderte, was jener durchgestanden habe. Er führte „unwiderlegliche Beweise“ dafür an, daß Filbinger zum „Freiburger Kreis des inneren Widerstands“ gehört habe. Er zitierte einen evangelischen Pastor, der geschrieben habe: Nachdem ein Mann wie Filbinger Ministerpräsident habe werden können, glaube er wieder an Deutschland. Dieser bekundete auch, Filbinger aus dem Krieg zu kennen zu einer Zeit, als er „unter äußerster Gefährdung seines Lebens“ zwei Offiziere von der Vollstreckung des Todesurteils gerettet habe. Seltsam, wie der Begriff Todesurteil Filbinger umkreist wie der Mond die Erde. Vor Tische laß man es anders. Aber, so Bossle, es ist eine Schande für die neue Demokratie, daß dieser Mann des inneren Widerstandes in einer solchen Weise behandelt wurde. Das Auditorium, das ohnehin nach jedem zehnten Satz wie an der Schnur gezogen applaudierte, konnte sich hier gar nicht fassen vor jubelnder Zustimmung. Weil nun mit Filbinger von einer verantwortungslosen sozialistischen Clique so harsch umgegangen worden war, sollte dieses Symposium, so Bossle, dazu benutzt werden, uns ernsthafte Gedanken über den inneren Zustand der deutschen Demokratie zu machen. Die machte er sich denn auch und versprach der Versammlung, auch nach dem Tod von Strauß werde Bayern nach wie vor ein Hort konservativer Entwicklungen bleiben.

Bevor der Professor nun seinem Freunde Gerhard Löwenthal das Wort gab, forderte er die Versammlung auf, einen Aufruf an die Regierung von Rheinland-Pfalz (bekanntlich eine CDU -Regierung) zu unterschreiben, sie möge sich nicht länger dagegen wehren, daß das Reiterstandbild am Deutschen Eck wieder aufgestellt werde.

Deutsches Eck

Wenn ich doch wüßte, was das Deutsche Eck ist. Es muß irgendein Platz am Rhein sein, der Tourismus scheint das Reiterstandbild zu benötigen wie die Loreley.

Noch immer war Löwenthal nicht am Zuge, ein CSU -Landtagsabgeordneter des Stimmkreises, in dem Würzburg liegt, überbrachte die Grüße der CSU-Fraktion und bekannte, es machten sich viele Sorgen um den inneren Zustand der deutschen Republik. Neben seinem verewigten Ministerpräsidenten sei eben Filbinger ein Fels in der Flut des Sozialismus. Dabei fiel nun zum wiederholten Male der Ausdruck „Hoffnungsträger“, als den Löwenthal dann auch mit den ersten Sätzen Filbinger feierte, nämlich als „Hoffnungsträger für die gemeinsame Sache“. Er sei ein Staatsmann im und am Staat und gehöre zu den Erfindern, zusammen mit ihm, Löwenthal, der die Parole „Freiheit oder Sozialismus“ erfunden habe, leider damals mit einem Fragezeichen versehen statt mit einem Ausrufezeichen, das heute dahinterstehen müsse. Er erinnerte sich, wie „die sozialistische Meute aufheulte“, als Plakate mit dieser Formel angeschlagen worden sind. Er kam ausführlich auf die Ostpolitik der SPD / FDP zu sprechen, die in Wahrheit „sowjetische Westpolitik“ gewesen sei. Wenn an diesem Tag die Namen Bahr und Brandt genannt wurden, dann geschah das auf eine Weise, die mich erwarten ließ, daß sich die ganze Versammlung bekreuzigte, weil der Teufel erwähnt worden war.

Vom Referat Steinbuchs mußte ich mich als Journalist tief betroffen fühlen, denn was er über die „Medien“ sagte, bestärkte mich endgültig in der Überzeugung, daß ich die Wirklichkeit verlassen hatte. Wenn man ihm glaubte, so ist „diese Macht ohne Verantwortung“ vom KGB unterlaufen bis hin zur 'FAZ‘, nur Springer sei standhaft geblieben. Dazu hatte bereits zuvor der ehemalige DDR-Experte für Marxismus und Leninismus, Hermann von Berg (den Bossle zu einem Lehramt an der Universität Würzburg verhelfen wird), Horror-Beispiele geliefert, wie das DDR-Regime es verstehe, diese westlichen Dummköpfe der „Medien“ für ihre Zwecke einzuspannen.

Infektionsgefahr

durch Narretei

Hinsichtlich der Studentenbewegung von 1968 und ihren Folgen befanden sich einige der Redner, vor allem Steinbuch, in einer Zwickmühle, der darin fast so etwas wie den Revolutionsversuch antidemokratischer Untermenschen zu sehen scheint, ein Ereignis, das deutsche Geschichte in Epochen gliedert wie der erste Weltkrieg und das Dritte Reich. Zugleich aber war die Ansicht vertreten, alles, was damals gewollt und in Ansätzen erreicht wurde, sei vom Zeitwind verweht, sei spurenlos verschwunden. Daß der ekelhafte Sozialismus nicht überhaupt verschwunden sei, führte Steinbuch schon vor Jahren in einer Rede (deren Abdruck im „Symposium“ verbreitet wurde) u.a. darauf zurück, daß er ein Weltbild propagiere, „das der Komplexität unserer Welt zwar nicht angemessen ist, dafür aber leicht verständlich ist“. Zum Beispiel so leicht verständlich, setze ich hinzu, wie Marxens „Kapital“.

Wo war ich? Zweifellos bei einer Versammlung von Meinungsmachern, die man mit einem gewissen Vorbehalt Intellektuelle nennen könnte, sie üben Berufe aus, die mit dem Kopf betrieben werden. Sie müssen, so sollte man meinen, des Lesens kundig sein; den 'Spiegel‘ zu lesen, aus dem sie an diesem Tag erfahren hatten, daß das zweifellos konservative, zweifellos antisozialistische CDU/CSU/FDP -Regime soeben der Sowjetunion bedingungslos drei Milliarden Mark überwiesen hat und die westdeutsche Industrie dieser selben Sowjetunion einen Hochtemperaturreaktor liefern will.

Alles, was sich jetzt zwischen Bonn und Moskau abspielt, wäre zwar unmöglich, hätte der „Vaterlandsverrat“ von Bahr und Brandt mit ihrer neuen Ostpolitik nicht stattgefunden, aber über sie geht, was dank Gorbatschow ein konservatives Regime in Bonn jetzt betreibt und betreiben muß, um Lichtjahre hinaus. Das wurde in „Toscana-Land“ nicht zur Kenntnis genommen? Insoweit doch, als über „Perestroika“ a la baisse spekuliert wurde.

Der Realitätsverlust dieser Redner, und, so muß ich vermuten, ihres Publikums, ist um kein bißchen geringer als es der Relitätsverlust jener Deutschen gewesen ist, die 1933 zur Weltherrschaft angetreten sind. Die deutsche Geschichte lehrt, daß ein derartiger Realitätsverlust nicht unter allen Umständen zu gesellschaftspolitischer Isolierung führt. Die Infektionsgefahr durch Narretei in deutschem Namen ist 1988 nicht minder groß als sie es vor einem halben Jahrhundert gewesen ist; sie war vor einem halben Jahrhundert nicht minder groß als unter WilhelmII. Über die „Existenz des Menschen im 20.Jahrhundert“ habe ich in der erzbischöflichen Residenz nichts erfahren. Statt Menschen waren dort „Hoffnungsträger“ versammelt.

In der erwähnten Rede Steinbuchs kann man lesen: „Viele bilden sich ihre Meinungen eben nicht durch unmittelbare Wahrnehmungen der Wirklichkeit, sondern aufgrund ihrer Darstellung in den Medien.“ Nicht einmal das - bei Gott, nicht einmal das! Die Bewohner des „Toscana-Landes“ bilden sich ihre Meinungen auf Grund von Wahnideen.