Hochachtung vor dem Klassengegner

Duell zwischen Daimler-Benz-Chef Reuter und dem „Hausideologen“ Negt auf IGM-Zukunftskongreß  ■  Von Martin Kempe

Frankfurt (taz) - Das eigentliche Duell auf der Zukunftskonferenz der Industriegewerkschaft Metall fand gestern in nebeneinanderliegenden Sälen statt: zwischen dem Stuttgarter Vorzeigekapitalisten Edzard Reuter (SPD) von Daimler Benz und dem Hannoveraner Soziologie-Professor Oskar Negt, der inzwischen so etwas wie der linke Hausideologe der IG Metall geworden ist. Beide sprachen in verschiedenen Arbeitsgruppen, aber vor vollbesetztem Auditorium, während es in den beiden anderen Arbeitsgruppen noch reichlich Platz gab.

Nach der Zahl der Zuhörer ging das Duell unentschieden aus. Aber auch inhaltlich war ein Sieger nicht eindeutig auszumachen: der Respekt der Gewerkschafter im Saal vor dem Klassengegner auf dem Podium war unübersehbar. Der Vortrag Reuters wurde nicht ein einziges Mal von Mißfallensäußerungen unterbrochen. Dabei hatte der Daimler -Chef in seinem moderat gehaltenen Vortrag durchaus einige Zumutungen für die Gewerkschafter versteckt: Welche Unternehmensstrategie empfiehlt eine Gewerkschaft, die immer wieder von der drohenden Autokrise redet und sich gleichzeitig über die Rüstungsproduktion ereifert, zur langfristigen Absicherung der Arbeitsplätze in einem Konzern wie Daimler? „Wir ekeln uns vor der Verteidigungstechnik, aber wir ziehen jedes Jahr 10.000 junge Männer zum Wehrdienst ein“, provozierte der Daimler-Chef und kündigte an, er werde „auch gegen Widerstand tun, was richtig ist“, also Daimler weiter zum führenden Rüstungskonzern ausbauen. Im übrigen will er natürlich den sozialen Frieden, sieht er die gewerkschaftliche Zukunft in einer möglichst umfassenden konzertierten Aktion mit den Unternehmern, um angesichts der verschärften Konkurrenzverhältnisse auf dem Weltmarkt und dem EG-Binnenmarkt 1992 die Position der bundesdeutschen Industrie zu erhalten.

Oskar Negt dagegen sieht in den Gewerkschaften die „einzige Massenorganisation, der man das Prädikat einer Bürgerrechtsbewegung zuerkennen kann“. Um diese Rolle aber tatsächlich spielen zu können, müßten sie ihr bisheriges verengtes politisches Selbstverständnis erweitern. War es zu Zeiten von überlangen Arbeitszeiten noch richtig, den Schwerpunkt gewerkschaftlicher Arbeit ausschließlich auf den Betrieb zu legen, so schaffen die Gewerkschaften mit ihrer Politik der Arbeitszeitverkürzung selbst die Notwendigkeit, auch außerhalb der Arbeit „Formen der politischen Kultur“ zu entwickeln. Aus ihnen kann selbstbewußtes gesellschaftliches Handeln der abhängig Beschäftigten erwachsen. Negt plädierte wie viele andere für eine Erweiterung des Arbeitsbegriffs über die Erwerbsarbeit hinaus. Die Vielzahl gesellschaftlicher Konfliktfelder, die keinen unmittelbaren betrieblichen Bezug haben, erfordern nach seiner Ansicht eine „Erweiterung des politischen Mandats“ der Gewerkschaften. Nur so können die Gewerkschaften wieder werden, was sie ursprünglich einmal waren: eine moderne Emanzipationsbewegung.

Der Zukunftskongreß der IG Metall hatte am Donnerstag mit einem Referat des Heidelberger Theologen Wolfgang Huber begonnen, der für eine Erweiterung des gewerkschaftlichen Solidaritätsbegriff eintrat: nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern auch die Arbeitslosen und Ausgegrenzten müßten darin eingeschlossen werden. Wenn zwar die politischen, nicht aber die sozialen Grundrechte der Menschen respektiert werden, sei das ein „halbiertes Verständnis von Menschenrechten“.