Die DDR im Spiegel ihrer Literatur

Ekkehart Krippendorff

Ein Buch ist anzuzeigen, das für die „deutsche Frage“ ebenso wichtig wie, soweit ich sehe, bisher weitgehend unbekannt geblieben ist - ein Buch über die DDR. Nicht das übliche DDR -Buch über Politik und Wissenschaft, Geschichte und Gesellschaft, über Parteiherrschaft und Dissidenten, sondern ein Spiegel, der eine ganz andere Dimension, eine Tiefendimension zu reflektieren vermag, die sich den traditionellen analytischen Zugängen nicht erschließt: die DDR-Literatur. Eine Münchner Politologin mit dem Instrumentarium einer Germanistin hat es, akribisch recherchiert und gut lesbar geschrieben, unternommen, uns die Gesellschaft des „anderen Deutschlands“ so zu schildern, wie sie sich selbst durch ihre eigene Literatur vermittelt sieht: in ihrem historischen, politischen und psychologischen Selbstverständnis, ihrer von der Bundesrepublik im Laufe von nunmehr bald einem halben Jahrhundert Eigenentwicklung unterschiedenen, anderen, aber auch deutschen Identität. Sie hat nahezu die gesamte übrigens ungemein umfangreiche - erzählende Literatur der 70er Jahre gelesen und verarbeitet (nicht der geringste Wert des Buches dürfte in dieser enzyklopädischen Fleißarbeit liegen) zu einem Panorama, aus dem wir mehr erfahren über das, was in der DDR als Selbstverständnis und Selbstverständigung vor sich gegangen ist, als es die sporadischen und impressionistischen „Reiseberichte aus einem fernen Land“ zu vermitteln in der Lage sind.

Gegenwartsliteratur spielt im öffentlichen Bewußtsein des anderen deutschen Staates eine unvergleichlich größere Rolle als in der BRD. Das geschriebene Wort, eben weil es unter den Bedingungen von Zensur und Kontrolle so ernst genommen und sorgsam abgewogen werden muß, hat da einen ganz anderen politisch-gesellschaftlichen Stellenwert, als hierzulande und die Schriftsteller - sind sie einmal in ihren Berufsverband aufgenommen - genießen nicht nur eine privilegierte Position, sondern gehören auch „zu den letzten freien Berufen in der DDR“, einem der wenigen Ländern, wo sie, nach eigener von der Autorin zustimmend zitierten Einschätzung, „allein von der Literatur leben können.“ Jener große Respekt vor dem geschriebenen Wort, der Verantwortung gegenüber produzierter Literatur, hat es auch mit sich gebracht, daß die westdeutsche Literatur ohne die inzwischen gezwungenermaßen in die Bundesrepublik übergesiedelten Schriftsteller gar nicht mehr vorstellbar ist.

Hanke liefert keine Einzelinterpretationen prominenter oder besonders populärer, vielgelesener Arbeiten (von denen viele diesseits der Mauer den Literaturinteressierten oft allenfalls dem Namen und Titel nach bekannt sind), sondern sie ordnet diese umfangreiche Produktion, geschrieben für „ein Leserpublikum, das in seinen Lese- und Welterfahrungen weitgehend auf die Schriftsteller der eigenen Gesellschaft angewiesen ist,“ nach Themen: Die Darstellung der Weimarer Republik und darin vor allem die Lebenserfahrung der später zur neuen politischen Klasse gewordenen kommunistischen Parteiarbeiter, Faschismus, Krieg und Neubeginn, die verschiedenen Phasen des Aufbaus des DDR-Sozialismus, aber dann auch die Schilderung der neuen Parteisekretäre, der Gewerkschafter, der Arbeiter im Betrieb, und nicht zuletzt das Bild, daß von der Außenwelt - den „sozialistischen Bruderstaaten“, dem westlichen Ausland und natürlich der Bundesrepublik - hergestellt wird. Dieses Panorama öffentlich-veröffentlichten DDR-Selbstverständnisses wird, analytisch, unter dem Oberbegriff der (heute inflationiert gebrauchten aber von Hanke systematisch begründeten) „politischen Kultur“ vorgestellt.

Hanke geht davon aus - und das macht ihre Ergebnisse so spannend, weil subtil und differenzierend - „daß politische Kultur nicht in politischen Stellungnahmen bestimmter literarischer Figuren noch im Gebrauch weltanschaulicher Vokabeln innerhalb eines Romankonzepts deutlich wird, sondern in der Schilderung des alltäglichen Verhaltens von Bürgern dieses Staates, wie wir es in der Literatur beiläufig abgebildet finden: 'Politische Kultur‘ zeigt sich demnach gerade im unpolitischen Verhalten.“

Natürlich gibt es da den - realsozialismus-spezifischen Konflikt zwischen politischer Parteilichkeit und „Parteiauftrag“ der Schriftsteller einerseits, und der Darstellung der Erfahrungswirklichkeit andererseits, zwischen dem, wie die politische Klasse der DDR ihr Volk sehen will, und wie und was dieses Volk wirklich ist und denkt und fühlt. Diese Literatur hat auch die Funktion, die eigenen Erfahrungen der real existierenden Leser für diese zu interpretieren. Sinn zu stiften, zu orientieren: Hätte sie - oder doch jedenfalls einige ihrer herausragenden Exemplare - nicht einen hohen Wirklichkeitsgehalt, würden sich die Menschen in dieser Literatur nicht wiedererkennen. Wie käme es dann zu den hohen Auflagen und Leserzahlen?

Insofern ist dieser Spiegel gewiß kein Zerrspiegel der wahren DDR: Hanke hat in ihm ein Bild, bzw. Bilder von DDR -Deutschen, von der DDR-Gesellschaft gefunden, die zwar begrenzt in ihren Artikulationsmöglichkeiten sind, aber innerhalb dieser Grenzen von einer eindrucksvollen Differenziertheit. Das zeigt sich im Einzelnen dort, wo die Verfasserin die Aussagen zu den spezifischen Themen (ein ungewöhnliches tabellarisches Schema vermittelt dazu einen raschen Überblick) zusammenstellt und sie selbst bekennt, „daß mit fortschreitender Lektüre Symphatie und Respekt für die dargestellten Personen und ihre Probleme zunahmen.“

Die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung zusammenzufasseen bedeutete eine unzulässige Vereinfachung man muß das im Einzelnen nachlesen. Sie sind weder schlicht positiv-optimistisch in ihren psycho-sozialen Befunden der DDR-Gesellschaft und ihrer aktiven politisch -gesellschaftlichen Protagonisten (Resignation sowohl auf seiten der einst idealistischen Kommunisten, als auch des Volkes), noch aber überwiegend negativ-pessimistisch hinsichtlich der Veränderungspotentiale. Der letzte Satz nur sei zitiert: „Bürokratischer Starrsinn steht neben Freundlichkeit, scheinbare Idylle neben Radikalität, Vertrauen auf die Entwicklungsfähigkeit des Sozialismus neben Verzweiflung an seiner schlechten Realität - und dies alles ist längst unentwirrbar miteinander verflochten: deutsche Spielart der Lebensweise im realen Sozialismus.“

Irma Hanke, Alltag und Politik. Zur politischen Kultur einer unpolitischen Gesellschaft. Eine Untersuchung zur erzählenden Gegenwartsliteratur in der DDR in den 70er Jahren; Westdeutscher Verlag, 402 Seiten, 48 DM