Eine Schicksalswahl, die keine sein darf

Wenn in Israel morgen das Parlament gewählt wird, stünde eine Entscheidung über die Zukunft der besetzten Gebiete an / Doch beide großen Parteien vermeiden es, sich festzulegen / Wahlkampf fast nur im Fernsehen / Palästinenserführung verbreitet Aufruf an Israels Wähler  ■  Aus Tel Aviv Beate Seel

Der jüngste Wahlaufruf an die Israelis, die morgen die neue Knessset wählen sollen, kam aus dem Untergrund: Die Führung des palästinensischen Aufstands in den besetzten Gebieten hat am Wochenende ein Flugblatt herausgegeben, das in englischer, hebräischer und arabischer Sprache die „öffentliche Meinung in Israel“ auffordert, ihre Stimmen „für einen gerechten Frieden, (Truppen-Rückzug, gegen Krieg und Besetzung sowie für Friedensverhandlungen mit der PLO“ abzugeben. In dem Flugblatt tritt die Führung des Aufstands (Intifada) nicht nur für einen unabhängigen Staat auf der Westbank und im Gaza-Streifen ein, sondern auch für die Sicherheit aller Staaten der Region - explizit auch die Israels. Schon letzte Woche hatte auch die PLO selbst sich mit einem ähnlichen Aufruf an die Israelis gewandt - ein Novum gegenüber ihrem früheren Desinteresse an Knesset -Wahlen.

Seit einem Jahr sorgt die Intifada für Schlagzeilen. Kein Wunder also, wenn sie auch den 12.Knessetwahlen seit der Staatsgründung Israels ihren Stempel aufgedrückt hat. Hat für Israel die „Stunde der Wahrheit“ geschlagen? Ist das Land an jenem Wendepunkt angelangt, wo es sich dem zwei Jahrzehnte lang verdrängten Problem stellen muß, daß es auf Dauer nicht gut gehen kann, wenn man gleichzeitig Besatzungsmacht, demokratischer und jüdischer Staat sein will?

Alle Ingredienzen für eine spannende Kampagne, eine hart geführte politische Kontroverse, eine leidenschaftliche öffentliche Debatte wären vorhanden. Doch der Wahlkampf verlief seltsam ruhig, fast langweilig, und auch in diesen letzten Tagen vor dem ersten November ist von einer „heißen Phase“ kaum etwas zu spüren. Zwar hängen aus einigen Wohnungen die Plakate der Arbeiterpartei oder des Likud, zwar stößt man gelegentlich auf eine Wand mit Plakaten, doch deutlich weniger als in früheren Kampagnen, denen auch karnevalistische Züge nicht abgingen. Die Zahl der öffentlichen Kundgebungen und Veranstaltungen der Parteien ist drastisch gesunken, der Wahlkampf hat sich ins Fernsehen verlagert.

Und auch dort sorgt eine strenge Gesetzgebung dafür, daß in den Nachrichtensendungen nicht über den Wahlkampf berichtet wird und die Konterfeis der Spitzenkandidaten nicht auf dem Bildschirm erscheinen. Was bleibt, sind die Werbespots der Parteien, die allabendlich eine dreiviertel Stunde lang ins Wohnzimmer flimmern. Hier aber ist die Luft raus. Sei es aus Mangel an Geld, an Ideen oder weil die Konkurrenten zur Holzhammermethode greifen, nehmen Wiederholungen überhand und langweilen das Publikum.

Und doch ist eine gewisse Spannung spürbar, eine mühsam gebändigte Erregung, etwa, wenn der Gemüsehändler sein Sortiment mit dem Wahlkampfslogan „Nur Likud kann“ feilbietet und damit aufbrausende, fast hysterische Reaktionen provoziert. Geschäfte locken mit Sonderangeboten, der Waschmittelverkäufer versucht, seine Produkte mit den Worten „Denkt nicht nur an heute, denkt auch an morgen!“ an den Mann oder die Frau zu bringen. In Geschäften mit elektronischen Geräten und anderen langlebigen Gütern geben sich die Käufer die Klinge in die Hand, vor allem in jenen Vierteln, in denen die weniger gut Betuchten leben.

Jeder will sich vor dem ersten November schnell noch mit Notwendigem oder weniger Notwendigem eindecken, wer weiß, was danach passiert; eine Abwertung des Shekel und massive Preissteigerungen werden allenthalben erwartet. Es sind in erster Linie die kleinen Parteien, die diese wirtschaftlichen und sozialen Sorgen und Nöte thematisieren, die niedrigen Renten, das katastrophale Gesundheitswesen, die hohen Steuern.

Die Arbeiterpartei von Shimon Peres und der Likud Block von Jitzhak Shamir, die derzeitigen Partner in der Koalition der Nationalen Einheit, stehen schon seit zwei Jahren im Wahlkampf, seit nämlich Shamir absprachegemäß in der Mitte der Legislaturperiode Peres im Amt des Ministerpräsidenten ablöste. Das mag, neben dem Brast auf die beiden „Großen“ und die Vielzahl der mitgeschleppten, aber nicht gelösten Probleme, zu einer gewissen Ermüdung über deren Show und verbale Gefechte geführt haben. Shamir und Peres siedeln ihre Propaganda ganz auf der Ebene der großen Entscheidungen an: Wie geht es weiter mit den besetzten Gebieten, wie kann die Sicherheit Israels gewährleistet werden? Vielleicht sind es gerade diese Verunsicherungen und der Eindruck, daß die Dinge ins Rutschen geraten sind, die den Wahlkampf so verhalten erscheinen lassen.

So groß, wie es in der Rethorik erscheinen mag, sind die Unterschiede zwischen den Hauptkontrahenten freilich gar nicht. Die beiden großen Parteien möchten im Grunde, daß alles so bleibt, wie es ist - nur verbunden mit einer besseren Absicherung für Israel. Wie die zu erreichen ist, daran scheiden sich die Geister.

Beide Parteien leihen die Gründung eines unabhängigen Palästinenserstaates ab, beide befürworten eine Art begrenzter Autonomie für die Bewohner der besetzten Gebiete unter israelischer Herrschaft. Die Scheidelinie liegt dort, wo Arbeiterchef Peres nach einer internationalen Eröffnungsrunde (eine Konferenz ohne Entscheidungskompetenzen) in direkte Verhandlungen mit Jordanien über die Zukunft der Westbank einsteigen will, „weil König Hussein einen internationalen Rahmen braucht, um mit Israel zu reden“, wie es in Kreisen der Arbeiterpartei heißt. Gegen direkte Gespräche mit dem Nachbarland hat zwar auch der Likud nichts einzuwenden, wohl aber gegen die internationlale Konferenz. „Dies würde bedeuten, den Schlüssel für die Zukunft Israels in die Hände von Staaten wie China oder der Sowjetunion zu legen, die unsere Interessen nicht vertreten.“

Sicher, der Likud möchte eine härtere Gangart gegenüber den aufständischen Palästinensern einschlagen, am liebsten alle, die ein Stein auf ein Auto werfen, sofort samt ihren Familien ausweisen. Doch es fällt angesichts der gar nicht so großen Unterschiede zwischen Arbeiterpartei und Likud schwer, eine „Schicksalswahl“ auszumachen, auch wenn die Zeichen der Zeit im Grunde danach schreien. Doch die möchte kaum einer wahrhaben und schon gar nicht im Wahlkampf, denn das würde bedeuten, einen breiten Konsens in Israel zu sprengen, der da lautet: Nein zu einem Palästinenserstaat, Nein zu Verhandlungen mit der PLO, Nein zu einem vollständigen Rückzug aus den besetzten Gebieten. Die „Stunde der Wahrheit“ wurde im Wahlkampf wieder einmal erfolgreich verschoben.

Vier Palästinenser getötet

Ein junger Palästinenser ist am Sonntag im besetzten Westjordanland von israelischen Soldaten erschossen worden. Ein weiterer Araber starb nach palästinensischen Angaben an den Schußverletzungen, die er am Vortag erhalten hatte. Bei Bethlehem erschoß die Armee bei der Niederschlagung einer Demonstration einen 18jährigen. In Nablus starb ein 17jähriger, der am Vortag angeschossen worden war. In den Lagern Khan Junis und Schatti im Gaza-Streifen wurden zehn Araber verletzt. Die israelische Militärführung hat Truppenverstärkungen nach Ostjerusalem, in die Westbank und den Gaza-Streifen entsandt, um „Präsenz zu zeigen“ und der palästinensischen Bevölkerung klarzumachen, daß in den kommenden Wochen jede Demonstration mit Gewalt verhindert wird. Am Samstag herrschte in den meisten Flüchtlingslagern eine Ausgangssprerre, während überall ein von der Aufstandsführung ausgerufener eintätiger Generalstreik befolgt wurde. Allein im Gaza-Streifen zwang die Ausgangssperre eine halbe Million Palästinenser, in ihren Häusern zu bleiben. Dennoch wurden über zwanzig Gaza -Bewohner verwundet, als israelische Truppen das Feuer eröffneten.

Amos Wollin