Vom Tanker zum Raumschiff?

■ Der Zukunftskongreß der IG Metall fand am Wochenende in Frankfurt statt / Von Martin Kempe

Im Frankfurter Airport-Center startete die IG Metall durch in die Zukunft. Vor der drohenden Perspektive eines geeinten Binnenmarktes in Europa steckte Chefpilot Franz Steinkühler den neuen gewerkschaftlichen Kurs ab: Ausweitung des traditionellen Interessenbegriffs auf eine ganzheitliche Strategie sozialer Auseinandersetzung, die nicht an den Landesgrenzen halten machen. Die neue Gewerkschaft zwischen computergestützter Pressuregroup für High-Tech -Proletarier mit individualistischem Lebensstil und einer Renaissance als natürlicher Bündnispartner der sozialen Bewegungen.

Für den Tagungsort, so beteuerte man bei der IG Metall, könne man nichts. Es sei kein anderes Kongreßzentrum freigewesen für so viele Leute. Das Airport-Center in Frankfurt, ein Monstrum aus Edelstahl und Schleiflack-Marmor mit dem Flair einer intergalaktischen Bahnhofshalle, war Schauplatz einer Konferenz, die Ausgangspunkt für einen neuen Aufbruch der Industriegewerkschaft Metall werden soll. „Ist das hier etwa unsere Zukunft?“ Manchem der 1.200 Kongreßteilnehmer wollte es so scheinen, als symbolisiere dieser Tagungsort gleichzeitig Ausgangspunkt wie Ziel jenes Kurswechsels, den der Vorsitzende Franz Steinkühler dem „Tanker“ IG Metall zumuten möchte, immerhin der mächtigsten reformerischen Massenorganisation der BRD. Die IG Metall als vollcomputerisierte, auf Effektivität und Modernität gestylte Pressuregroup, attraktiv für den zeitgemäßen Arbeitnehmer mit EDV-Ausbildung und individualistischem Lebensstil - das ist sicher eine der Optionen, die am Ende der von Steinkühler forcierten IGM-Perestroika herauskommen können. Möglich ist aber auch eine Renaissance der Gewerkschaft als konflikt- und bündnisfähige soziale Bewegung, die nach langen Jahren der Einengung über ihre tradierten Aktionsfelder hinauswächst und die Menschen nicht allein auf ihre Interessen als abhängig Beschäftigte im Exportmodell Deutschland reduziert.

Es war eine bombastische Veranstaltung, ein großes Familientreffen von rund 1.200 Gewerkschaftern, Sozialdemokraten, kritischen Sozialwissenschaftlern und Journalisten. Zwei wesentliche Schwerpunkte wurden in den vier Arbeitsgruppen am Freitag und in der programmatischen Abschlußrede des IGM-Vorsitzenden Franz Steinkühler am Sonnabend diskutiert: die Ausweitung des traditionellen, eingeengten Interessenbegriffs der Gewerkschaften in Richtung auf eine ganzheitliche Strategie sozialer Auseinandersetzung und die gewerkschaftlichen Konsequenzen aus der Internationalisierung des Kapitals sowie des 1992 anstehenden EG-Binnenmarkts.

„Gewerkschaftshäuser müssen Kommunikationszentren sein, keine Verwaltungsgebäude“, forderte SPD-Vordenker Peter Glotz am Freitag. Obwohl Glotz seinerzeit in der Auseinandersetzung um die Lafontaine-Thesen eindeutig für den saarländischen Ministerpräsidenten Partei ergriffen hatte, waren von der Fehde zwischen SPD-Enkeln und Spitzengewerkschaftern nur noch Spurenelemente spürbar. Flexibilisierung der Arbeitszeiten, sofern sie im individuellen Interessen der abhängig Beschäftigten liegt, fordert die IGM inzwischen selbst. Und auch Glotz‘ Aufforderung, dem Ellenbogen-Individualismus der Konservativen eine „Individualisierung von links“ entgegenzusetzen oder gar die „Gewerkschaften als Kulturbewegung“ zu entwickeln, löste keine Empörung mehr aus, höchstens Spott: „Muß das denn sein?“

Die mit Spannung erwartete Abschlußrede Steinkühlers am Sonnabend brachte tatsächlich eine kleine Sensation: nie hat ein deutscher Gewerkschaftsführer so selbstkritisch unbequeme Wahrheiten ausgesprochen. Internationale Solidarität findet, so formulierte er unmißverständlich, ihre Grenze eben nicht an der weltweiten Konkurrenzfähigkeit des bundesdeutschen Kapitals, also auch nicht an dem bornierten Arbeitsplatzinteresse deutscher Belegschaften. Auch das Wort „ökologische Kreislaufwirtschaft“ tauchte in einer Rede auf, und die „Durchsetzung einer ökologischen Wirtschaftspolitik“ forderte er in einem Atemzug mit der „Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“. Nie hat ein Gewerkschaftsführer deutlichere Bündnisangebote an die außergewerkschaftlichen sozialen Bewegungen gemacht. Anderseits verschwieg er nicht, „wie unendlich schwierig es ist“, Veränderungen in einer Massenorganisation wie der IG Metall durchzusetzen. „Der Gorbatschow der IG Metall“ steht noch am Anfang. Siehe Kommentar auf Seite 4