Festnahmen bei Demos in der Sowjetunion

■ Demonstranten fordern die Freilassung aller politischen Häftlinge in der UdSSR / Komitee für Denkmäler der Opfer des Stalinismus gegründet / War Stalin Spitzel des Zaren?

Berlin (afp/taz) - „Laßt alle politischen Gefangenen frei“ stand auf den Plakaten einer Gruppe von Demonstranten, die sich am Sonntag auf dem Puschkin-Platz in Moskau versammelt hatten. Die Polizisten hielten sich zwar zuerst zurück und griffen nicht gewaltsam ein. Vier Demonstranten seien jedoch festgenomen worden, berichteten die Veranstalter, die sich aus Vertretern unterschiedlicher Oppositionsgruppen zusammensetzten. Vielen Teilnehmern seien auf dem Weg zur Kundgebung Plakate abgenommen worden. Am Montag wurden zwei weitere Demonstranten zu je 15 Tagen Haft verurteilt. Die beiden Aktivisten der „Demokratischen Union“ waren am Sonntag festgenomen worden, als sie zu einer Demonstration in der Innenstadt gehen wollten. Trotz des Schnees und der Kälte versammelten sich dort über 400 Menschen. Sprecher der linksoppositionellen Organisation gaben bekannt, man habe eine Liste von 250 Sowjetbürgern zusammengestellt, die aus politischen Gründen in Haftanstalten, in der Verbannung, in psychiatrischen Kliniken und Lagern festgehalten werden. Nach offizieller Auffassung handelt es sich aber nur um „zwei Dutzend“ Häftlinge, die noch unter die „vom Westen“ definierte Kategorie der politischen Häftlinge fielen.

Bei weiteren Demonstrationen sollen über 60 Menschen in mindestens vier sowjetischen Städten festgenommen worden sein. In Minsk demonstrierten 4.000, Demonstrationen gab es auch in Leningrad und Nowosibirsk.

Um die Errichtung von Denkmälern der Opfer des Stalinismus geht es der Initiative „Memorial“, die sich öffentlich konstituierte und im Dezember einen Gründungskongreß organisieren will. Vor über 500 Teilnehmern gab der Friedensnobelpreisträger und Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Andrej Sacharow, bekannt, daß Gorbatschow ihm gegenüber persönlich seine Unterstützung für die Initiative zugesagt hätte. Sacharow erinnerte in seiner Rede an die Millionen Toten, die das stalinistische System hinterlassen hat.

Große Unruhe entstand, als Dokumente verlesen wurden, die angeblich beweisen, daß Stalin noch in der zaristischen Zeit Agent der Geheimpolizei gewesen sei. Nach Forschungen des Historikers Gergij Artutjonow soll nach Quellen aus jener Zeit erwiesen sein, daß Stalin zwischen 1906 und 1913 Spitzel der Ochrana, der Geheimpolizei des Zaren war. Und zu Auseinandersetzungen kam es, als Mitglieder der „Demokratischen Union“ nicht nur über den stalinistischen Terror sprechen wollten, sondern über den „Roten Terror“ der Leninzeit.

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