Das Ungewöhnliche im Gewohnten

■ Vier Fotografen der frz.„Ecole Nationale de la Photografie“ waren am Wochenende in Bremen. Begleitende Ausstellungen der Fotografen sind im Fotoforum zu sehen

Man stelle sich vor, von Weizsäcker oder Kohl kämen aus Bonn angereist, eine Fotoschule zu eröffnen. Undenkbar. In Deutschland. In Frankreich sieht die Lage anders aus. In selbstverständlicher Vereinnahmung der Fotografie als französische Erfindung, steht sie dort weit mehr im öffentlichen, d.h. auch staatlichen Interesse, als hierzulande. Da ist dann selbst Arles nicht zuweit, wenn es darum geht, der nationalen Bedeutung einer Fotoschule dadurch Ausdruck zu verleihen, daß Mitterrand höchstpersönlich zu ihrer Einweihung anreist.

Der Name Arles hat in der Fotowelt einen ganz besonderen Klang. Seit 1979 finden dort alljährlich im Sommer die „Rencontres Internationales de la Photographie“ statt, die Besuchern aus aller Welt, neben Fotopräsentationen im römischen Amphitheater und Ausstellungen im gesamten Stadtgebiet, vor allem eine Art Sommerakademie mit hochkarätig besetzten Workshops bie

ten. 1982 wurde dort eben eben jene Fotoschule, die „Ecole Nationale de la Photographie“ eröffnet, die auch innerhalb Frankreichs eine Sonderstellung einnimmt. Sie versteht sich durchaus als Eliteschule: bis zu 1/3 ausländische Studenten können aufgenommen werden, deren Ausbildung sich von der an Kunstakademien und handwerklich orientierten Schulen darin unterscheidet, daß sie möglichst umfassend Technik, künstlerische Gestaltung und theoretische Fachkenntnisse entwickeln will. Gründer und Direktor dieser Schule ist Alain Desvergnes. Ihm, sowie drei anderen Fotografen, die allesamt an der „Ecole Nationale“ unterrichten (Arnaud Claass, Christian Milovanoff und Bernard Plossu) wurde nun vom Fotoforum in Zusammenarbeit mit dem Institut Francais Gelegenheit gegeben, in einer Reihe von vier Ausstellungen („Französische Fotografie Heute“) eine Auswahl ihrer Arbeiten zu zeigen. In Ver

bindung dazu fand am letzten Wochenende ein Symposion unter Beteiligung von Desvergnes, Claass und Plossu statt, das neben Informationen über die „Ecole“ Einblicke in die aktuelle Situation französischer Fotografie und in die Positionen dieser vier Fotografen bot.

Vor einer Woche bereits ging Desvergnes Ausstellung „Yoknapawtepha“ im Fotoforum zu Ende. Ihren Namen verdankt sie einer Gegend in Millissippi/USA, in der William Faulkner lebte. Desvergnes hielt sich von 1963-65 dort auf. Angetrieben von der „fixen Idee des Fotografen, diese kleine Welt Faulkners zu sehen und zu zeigen“, entstanden in dieser Zeit Fotos mit bildjournalistischem Charakter. Sie zeigen auf kleinem Format die Welt der Weißen und Schwarzen in ihrer strikten Trennung.

Weiße Mädchen in Reifrocken, lange Spitzenunterhosen und hochherrschaftliche Häuser - die Welt der Weißen weist immer

Züge von Repräsentation auf. Sie wirkt so seltsam antiquiert, als sei die Gegenwart von „Vom Winde verweht“ noch längst nicht Vergangenheit. Im Vergleich dazu, inoffiziell eher beiläufig: Die Fotos der anderen, der „schwarzen Welt“. Desvergnes ist nie distanzierter Beobachter. Sein Blick ist ohne Zweifel auch geprägt von politischem Engagement, mehr aber noch vom Interesse an der genauen Beobachtung, das Klischees zu umgehen sucht. Er ordnet den eigenen Standpunkt im wahrsten Sinne des Wortes unter - Aufnahmen aus der Untersicht sind keine Seltenheit.

Desvergnes Arbeit lehnt sich stark an fotografische Traditionen an. Mit seinem Interesse für Alltäglichkeiten jedoch steht er in diesem Zusammenhang am Anfang einer Reihe, die (derzeit mit Claass und Milovanoff) verschiedene Möglichkeiten zeigt, im Gewohnten das Ungewöhnliche zu sehen.

S.H.