Die Wildsau mit Bock auf Theorie

Berliner Selbsthilfeorganisation Netzwerk feiert zehnjährigen Geburtstag mit dreitägiger Tagung / Großes Bedürfnis nach Theorie, nach den „Großen Fragen“, aber wenig Antworten / Die Kluft zwischen dem Projektalltag und dem gesellschaftlichen Umfeld / Politische Utopien diffus, aber nicht verloren  ■  Von Birgit Meding

Kopflastig war der zehnjährige Geburtstag, den das Berliner Netzwerk am vergangenen Wochenende feierte. Die „wilde Sau“, so ihr Kenn- und Markenzeichen, hatte damit aber offensichtlich den Nerv und das Bedürfnis der alternativen Projektszene getroffen. Nach dem Bauch- und Bockzeitalter scheint Kopfarbeit wieder angesagt zu sein. Gilt es doch, den status quo, die Rat- und Orientierungslosigkeit nach zehn Jahren real existierender Alternativwirtschaft, zu überwinden. Unbestritten brannte es vielen unter den Nägeln, die alten Fragen neu zu stellen, das „aufgehäufte“ Theoriedefizit zu mindern und nach dem zu suchen, was heute der gemeinsame Nenner von Alternativ-, Anders- und Linkssein bedeuten könnte.

Die Nachdenk-Veranstaltung von Netzwerk, das seit 1978 als erstes seiner Art politische Initiativen, soziale Projekte und selbstverwaltete Betriebe finanziert, wollte denn auch keine Jubiläumsparty mit Lobesreden sein. „Der zehnte Geburtstag des Netzwerks fällt in eine Situation, wo es den Anschein hat, als habe sich die Alternativbewegung auf das Schaffen einiger wichtiger Freiräume beschränkt“, heißt es einleitend. „Wir möchten deshalb diskutieren, wie der Alternativsektor wieder stärker zu einer gesellschaftlichen Herausforderung werden kann.“ Eindeutige Antworten darauf wurden nicht gefunden, doch das „Stochern im Nebel“, wie es einige der rund 150 TeilnehmerInnen bezeichneten, war für die meisten wichtig und notwendig.

Zwischen Erfolg

und Traumata

Den großen Rahmen versuchte Roland Roth von der Freien Universität in seinem Einleitungsreferat unter dem eher abstrakten Titel „Neue gesellschaftliche Bedingungen und lokale Bewegungsmilieus“ abzustecken. Zwei Bedingungen kennzeichnen seinen Ausführungen nach die Lage: Einerseits „versprechen die neuen sozialen Bewegungen auf absehbare Zeit nicht den Tigersprung in eine nachkapitalistische Gesellschaft, sondern leisten bewußt oder unbewußt ihren Beitrag zur Herausbildung neuer kapitalistischer Regulationsformen“.

Doch gegen die skeptische Rede vom Bewegunsgherbst wies er daraufhin, daß sich die neuen sozialen Bewegungen „zu einem einflußreichen und relativ beständigen Akteur entwickelt“ hätten, mit eigener Infrastruktur, Öffentlichkeit, Wohngemeinschaften, Alternativprojekten und kulturellen und politischen Initiativen. Das sei sozusagen die Seite des Erfolgs.

In der Negativbilanz vermerkte er andererseits „zahlreiche Brüche, Traumata und Sackgassen“: K-Gruppen, RAF, „Absetzbewegungen des autonomen Feminismus“ bis hin zur Enttäuschung über die Grünen. „Gebeutelt“ werde die Szene auch von inneren Widersprüchen, wie es sich gerade in West -Berlin gezeigt habe. Die exotische Präsentation eines bunten und reizvollen Nebeneinanders sei verblaßt. „Übergreifende Gemeinsamkeiten werden schwieriger, denn zwischen dem Kiezkoller der Ghettorevolten und dem Urbanitätskult der alternativen Schickeria liegen Welten.“ Wie die Aktionen gegen die Lokalredaktion der taz oder gegen Alternativkinos, die Pornofilme vorführen, zeigten, werde der politische Gegner nunmehr mit Vorliebe in den eigenen Reihen gesucht.

Angesichts der von ihm skizzierten Lage widersprach Roth dem Motto der Veranstaltung. Nicht „Erst verloren sie das Ziel aus den Augen, dann verdoppelten sie die Geschwindigkeit“ müsse es lauten. Seine Erfahrung sei eher die: „Erst verloren sie das Ziel aus den Augen, dann verwalteten sie nur noch sich selber.“ Um an Veränderungsgeschwindigkeit zuzulegen, müsse erneut über gemeinsame Ziele debattiert werden. Doch das brauche Zeit.

„Was ist daran

noch politisch?

„Den Zielen und Widersprüchen wurde in vier Arbeitsgruppen nachgespürt. Den Stand der Dinge brachte wohl die Arbeitsgruppe „Vereinnahmung, Kommerzialisierung versus Widerstand gegen die (staatliche) Funktionalisierung“ am genauesten auf den Punkt. Die kapitalistischen Strukturen und Vereinnahmungsmechanismen seien unterschätzt worden. Zwar sei es richtig gewesen, Projekte zu machen und damit noch fortbestehende Strukturen zu schaffen. Dennoch sei es nicht gelungen, eine breite gesellschaftliche Bewegung zu schaffen. Nicht zuletzt gebe es auch innerhalb der Projektbewegung „Klassenunterschiede“, zwischen denen, die nach jahrelanger Arbeit immer noch „rumkrepeln“ und denen, die auf soliden finanziellen Füßen stehen.

Die verfehlte Anwendung von Begriffen wie Autonomie, Widerstand und Bewegung habe zu einer Selbstblockade geführt. Autonomie impliziere die Illusion, man könne in einer kapitalistischen Gesellschaft wirklich autonome Sektoren schaffen, das aber, habe die Erfahrung gezeigt, funktioniere nicht. Und auch „Widerstand“ gehe von einer Bürgerkriegslogik aus, die mit dem gesellschaftlichen Alltag in der Bundesrepublik nichts zu tun habe. Ein wesentliches Dilemma der Projekte sei vor allem, daß sie sich, um zu überleben, institutionalisieren müssen. Dieses aber wiederum wird von vornherein abgelehnt. Was also tun? Aus der Selbstblockade ausbrechen und wieder in die politische Offensive gehen, hieß die Forderung. Doch wie das im konkreten Projektalltag zu bewerkstelligen ist, wußte niemand zu sagen.

Ein Naturkostler beschrieb dagegen die Niederungen des Alltags. Den Käufern sei es oftmals egal, woher die Tomaten kommen, ob aus Chile oder Südafrika. Darüberhinaus sei er auf den Einkauf im Fruchthof angewiesen. Wollte er seinen politischen Anspruch umsetzen, hieße die Alternative nur, „Laden dichtmachen“. An der für die Tagung zentralen Frage „Was ist an der Projektarbeit noch politisch“ hakte sich auch die Arbeitsgruppe „Freiraum als Nische“ fest. Die Existenz eines Kinderladens beispielsweise sei heute per se nicht mehr politisch. Die seien damals zwar aus Kritik an der Erziehung gegründet worden, heute werde aber weitgehend „nur so vor sich hingemacht“, hieß es provozierend. Diese These fand zwar nicht ungeteilte Zustimmung, doch die große Kontroverse entstand daraus nicht. Das sei arrogant, hieß es dagegen. Warum sollte man nicht auch mal zufrieden sein können, und schließlich mache man den Kinderladen, damit es dem Kind besser gehe. Das sei doch schon was.

Die Tatsache, daß der Projektalltag oftmals derart auffressend sei, daß darüber hinaus kaum noch politische Auseinandersetzungen laufen, blieb unbestritten. Angesichts der großen Kluft zwischen Alltag und Anspruch bot eine Netzwerkerin eine gedankliche Hilfskonstruktion an. Das Verhältnis von „Innenpolitik“, also all das, was innerhalb eines Projektes laufe, und „Außenpolitik“, das Agieren und Reagieren im gesellschaftlichen Umfeld, stimme nicht mehr. Wie man aber wieder zu einer angemssenen Verhältnismäßigkeit kommen kann, darauf blieben die Antworten vage. Europa 1992 zum Thema machen? Das fanden einige zu „reaktiv“, den meisten aber war das noch zu weit weg und vor allem zu unbekannt. Ein Sabbatjahr zum Verschnaufen und Nachdenken? Damit konnten die meisten schon eher was anfangen.

Bei dem Stichwort Zukunftsperspektive schien dann endgültig die Puste auszugehen. „Weiß jemand, wie das mit der Altersversorgung aussieht“, stand plötzlich als Frage im Raum. Sicherlich eine wichtige Angelegenheit, doch ob sie ausgerechnet an dieser Stelle zu behandeln sei, daran zweifelten denn doch einige TeilnehmerInnen. Birgit Cramon -Daiber vom Frauennetzzwerk „Goldrausch“, die die Einleitungsthesen vortrug, resümierte die Diskussion abschließend so: Utopie werde oft auf die Vergangenheit reduziert, „damals war alles besser“. Das führe zu einer Selbstunterschätzung, es werde verkannt, daß Fakten geschaffen wurden, die trotz allem Anlaß zu mehr Selbstvertrauen geben sollten.

Bilanz zu ziehen fiel folglich schwer. Keine greifbaren Diskussionspunkte, keine hitzigen Kontroversen, nur die neue Lust am Diskutieren. Die unangenehme Frage, „wen von den Jungschen interessiert das überhaupt noch, wenn wir uns nach zehn Jahren überhaupt nicht vom Fleck bewegt haben“, wurde von den meisten der zwischen 30 und 40jährigen TeilnehmerInnen beiseite geschoben. Sicher waren sich aber die meisten, daß weiter diskutiert, nach Gegenstragien und Utopien gesucht werden muß. Den Ungeduldigen wurde Herbert Marcuse entgegengehalten: „Die befreite Gesellschaft könne nur das Werk mehrerer Generationen sein und wird wohl mehr als hundert Jahre beanspruchen.“ Wird der Atem für die restlichen 90 Jahre ausreichen?