Macht und Ohnmacht am Potomac

■ Hohe Politik und harter Alltag in Washington, D.C., der Bundeshauptstadt der Vereinigten Staaten

Stefan Schaaf

Die Reise nach Washington beginnt am Stadtrand. Wir stehen an dem Kreisel, der die Grenze zwischen dem Vorort Silver Spring und dem „District of Columbia“ bildet. Höllisch aufpassen muß man hier als Autofahrer, denn von drei Seiten strömen die Fahrzeuge auf mehrspurigen Fahrbahnen in die 16.Straße hinein, eine schnurgerade Verkehrsachse, die Washington von Nord nach Süd durchquert und sechseinhalb Meilen weiter direkt vor der Tür des Weißen Hauses endet.

Kein langer Weg also bis zu Ronald Reagans Amtssitz, doch in Silver Spring ist die Welt der großen Politik weit entfernt. Hier draußen, am Ende der U-Bahn-Strecke aus der Innenstadt, hat sich seit den vierziger Jahren, erkenntlich an den Art-Deco-Fassaden einiger Häuser, eine Nische intakter Urbanität bewahrt. Kleine Coffee-Shops und Trödler, Autowerkstätten und alteingesessene Einzelhändler kommen den Bedürfnissen einer buntgemischten Bevölkerung nach - viele Asiaten, Jamaicaner, Juden, Schwarze und viele alte Menschen, die oft schon in Silver Spring einen Großteil ihres Lebens verbracht haben.

Viele Geschäfte stehen neuerdings leer, denn große Umwälzungen stehen bevor: In zwei Jahren sollen drei Straßenblocks im Zentrum zu einer riesigen Baugrube werden, aus der ein gigantischer Hotel-, Büro- und Shopping-Komplex mit 11.000 Arbeitsplätzen emporwachsen soll. Die Kontroverse um das Projekt der sogenannten „revitalization“ Silver Springs erregt hier gegenwärtig die Gemüter mehr als die Präsidentschaftswahl. Gegen den Widerstand vieler Bewohner soll auch Silver Spring den Weg der anderen Washingtoner Suburbs gehen und vom Bauboom erfaßt werden, Kommerz im großen Stil ist angesagt, Lebensqualität äußert sich im besten amerikanischen Stil in dem, was käuflich und verkäuflich ist.

Wie ein Krebsgeschwür wuchert Suburbia rund um die amerikanische Bundeshauptstadt. Der „District of Columbia“, jenes seltsame auf der Spitze stehende Quadrat auf der Landkarte, das die Gründerväter der Vereinigten Staaten einst als Gelände ihrer Hauptstadt auserkoren, hat längst seine Grenzen gesprengt und drängelt sich immer weiter in die sanften Hügel der angrenzenden Bundesstaaten Virginia und Maryland hinein. 650.000 Menschen leben im „District of Columbia“, mehr als drei Millionen aber in dem riesigen Ballungsraum außen herum.

Seit den fünfziger Jahren ist die begüterte weiße Mittelklasse in die Reißbrett-Vorstädte geflohen und hat ein Stadtgebiet hinter sich gelassen, in dem ein paar zehntausend Superreiche einer verarmten Bevölkerung vor allem schwarzer und hispanischer Herkunft gegenüberstehen 65 Prozent der Bürger Washingtons sind afroamerikanischer, 15 Prozent hispanischer Herkunft. Das Regierungsviertel und die Innenstadt mit ihren Bürohäusern sind nur tagsüber belebt, nachts werden dort allenfalls die Obdachlosen vom Lärm der Müllabfuhr und der Straßenreinigung gestört. Die Götter von Babylon

Die 16.Straße bringt mich jedesmal zur Verzweiflung, wenn ich eilig in die Stadt muß. Washingtons Verkehrsplaner scheinen aus unerfindlichen Gründen die Idee der grünen Welle für Unfug zu halten, und so bringt alle zwei Ecken eine rote Ampel den Fahrzeugstrom zum Stehen. Doch ich fahre auch gern die 16.Straße hinab, vorbei an den Dutzenden von Kirchen, Tempeln und Synagogen, die die Straße in ihrem mittleren Abschnitt säumen und in denen Gläubige aus allen Ländern ihrem jeweiligen Heiland huldigen.

Die Religion in Washington spricht mit vielen Zungen; die National Baptist Memorial Church an der Ecke Columbia Road im Latino-Viertel Adams Morgan etwa hält täglich drei Gottesdienste ab: einen in Englisch, einen in Spanisch und einen in haitianischem Patois. Und weil der liebe Gott nicht immer und bei allem helfen kann, werden im Kirchengebäude auch illegale Einwanderer in Rechtsfragen beraten. Religion in Washington ist nicht eine Sache allein zwischen Gott und dem Individuum, sondern eine, die sich vielerlei weltlicher Anliegen annimmt. So haben einige Synagogen Schilder auf den Rasen gepflanzt, die zur Befreiung der sowjetischen oder der äthiopischen Juden aufrufen, vor schwarzen Kirchen heißt es dagegen häufig „Free South Africa!“.

Die Columbia Road bildet das Herz jenes Stadtviertels, das man in New York wohl „Little South America“ nennen würde eine Enklave hispanischer Kultur und hispanischen Kommerzes. Hier in Washington heißt es „Adams Morgan“, benannt nach einer weißen und einer schwarzen Schule, die sich in den fünfziger Jahren nach der Aufhebung der Rassentrennung durch den Obersten Gerichtshof aus eigenem Antrieb vereinigten. Die Speisekarten der vielen kleinen Restaurants, die das Bild der Columbia Road bestimmen, führen von El Salvador und Peru nach Jamaica und Mexiko, machen an der Ecke zur 18.Straße einen Abstecher nach Äthiopien und Japan und führen den Besucher schließlich nach Kuba.

Dazwischen findet sich ein Geschäft mit lateinamerikanischen Zeitungen und Schallplatten und ein Reisebüro, das mit den billigsten Flügen nach San Salvador wirbt, aber auch ein McDonald's und ein chinesischer Schnellimbiß. Viele, die hier arbeiten, hat politische Verfolgung, Not oder zumindest die Aussicht hergetrieben, im reichen Norden trotz Diskriminierung und sozialer Ungerechtigkeit ein besseres Auskommen zu finden als in Mexiko, Panama oder Kolumbien.

Einmal im Jahr, meist im glühendheißen August, feiert die Latino-Community ihr großes Festival. Dann wird die Columbia Road ein Wochenende lang für Autos gesperrt, zwei große Bühnen für die eigens angereisten lateinamerikanischen Bands und Hunderte von kleinen Ständen, die Tacos und Empanadas verkaufen, werden aufgebaut. Mehrere hunderttausend Menschen beklatschen die Parade mit der hispanischen Schönheitskönigin und lassen sich zwei Tage lang mit Bier und Salsa-Musik vollaufen, bis am Sonntagabend mannshohe Müllhaufen den Standort der Abfalleimer markieren.

Das Festival führt immer wieder zu Rivalitäten, denn wer von der Latino-Community zum Chef des Festkomitees gewählt wurde, ist inoffizieller Bürgermeister der Washingtoner Latinos - zumindest für ein Jahr. Falls man ihn fragte, wie er die Zukunft dieses Stadtviertels und seiner hispanischen, aber auch afrikanischen und afroamerikanischen Bewohner einschätzt, würde er wohl über die immer schwierigeren Lebensbedingungen klagen und mit spitzem Finger auf die Schickeria-Diskotheken verweisen, die sich in den letzten zwei Jahren zwischen die Latino-Kneipen gedrängt haben.

Die Yuppies sind auch in Adams Morgan im Anmarsch; die Mietpreise gehen bereits steil nach oben. Lange Jahre galten die preiswerten lateinamerikanischen und äthiopischen Restaurants als Geheimtip, nun sind sie in Mode gekommen und damit dem hemmungslosen Ansturm des Geldes ausgesetzt. „Slumming“ nennt sich diese Form der kulturellen Ausbeutung im Yuppie-Volksmund. Lange wird es nicht mehr dauern, und aus Adams Morgan ist ein Abklatsch des Touristenviertels in Georgetown mit seinen Edel-Boutiquen und schicken Palmen -Bars geworden.

Schon jetzt sind an warmen Sommerabenden die Schlangen von Vergnügungssüchtigen fünfzig Meter lang. Sie wollen in Adams Morgan ins „Cities“ oder ins „Dakota„; nicht selten wartet eine Limousine mit Fahrer am Straßenrand auf Gäste, die am nächsten Morgen wieder in den Hörsälen der Washingtoner Elitehochschulen oder hinter dem Schreibtisch eines Anwaltsbüros sitzen. Keine 200 Meter weiter liegen Obdachlose betrunken vor dem „Safeway„-Supermarkt oder graben in den Mülleimern nach angebissenen Hamburgern. Nicht im Traum könnten sie sich vorstellen, vier Dollar für eine Flasche Bier in einer der Bars weiter unten auf der Straße auszugeben.

Einflußhändler

und das alte Rom

Das Leben vieler Weißer - in der Regel sind sie ohnehin nur für ein paar Jahre Bewohner dieser Stadt - spielt sich hingegen fast ausschließlich in den nüchternen Bürovierteln der Innenstadt, den gepflegten Museen an der Mall und den teuren Restaurants Georgetowns ab; ihr Denken kreist um Macht und Einfluß auf den politischen Apparat. Nachts verkriechen sie sich in die Vororte oder hinter die grüne Barriere des Rock Creek Park, eines breiten, nur von wenigen Straßen durchquerten Parkstreifens, der die Stadt von Nord nach Süd zerschneidet. Allenfalls die Straßen voller Schlaglöcher, die auch in Georgetown zahlreich und tief sind, erinnern in den Edel-Wohnvierteln westlich des Parks an die Tatsache, daß Washington eine arme Stadt ist.

Anders als in New York, das seine Einwanderer stets als urbanes Charaktermerkmal gefeiert hat, ist Washingtons Unterklasse störendes Beiwerk der das Image der Stadt bestimmenden Power-Kultur. Washingtons wichtigste Industrie ist ein Moloch von Denkfabriken, Lobby-Organisationen und Beratungsfirmen; Startrampen allesamt für werdende und soziales Netz für ausgeschiedene Politicos. Einfluß ist die wichtigste Ware, mit der im politischen Washington gehandelt wird; wer Einfluß hat, trägt ihn für teures Geld zu Markte, wer Einfluß sucht, weiß um den Preis, der zu bezahlen ist.

Ein wohlausgestattetes Büro ist das mindeste, was der „Verband der Schweineproduzenten“, der „Rat für wirtschaftliche Prioritäten“ oder das „Amerikanisch -Israelische Komitee für Öffentliche Angelegenheiten“ (AIPAC) in Washington unterhalten muß. AIPAC, eine Mammut -Organisation mit 85 Angestellten und einem Jahresbudget von mehr als sechs Millionen Dollar achtet auf die Wahrung israelischer Interessen im Kongreß und ist mehrmals erfolgreich gegen geplante US-Waffenverkäufe an arabische Staaten zu Feld gezogen. Abgeordnete, die kein offenes Ohr für AIPACs Lobbyisten haben, müssen sich, das hat die Vergangenheit gezeigt, um ihre Wiederwahl ernste Sorgen machen, denn AIPAC weiß, wie man Wahlkampfkassen füllt.

Mehr als 3.000 solcher Verbände, die jedes denkbare Interesse gegenüber dem Kongreß oder der Administration vertreten, bevölkern die zwei Quadratmeilen voller uniformer Büroklötze in Washingtons Innenstadt. Darunter, das darf nicht verschwiegen werden, sind auch zahlreiche linke Gruppen und Grüppchen, die sich mit viel Eifer und Pragmatismus dem politischen Apparat zuwidersetzen suchen.

Meist kämpfen sie einen recht einsamen Kampf gegen die herrschenden Mächte: Mehr als 8.000 Lobbyisten waren 1986 offiziell in Washington registriert, 60.000 Juristen gehen hier ihrer Beschäftigung nach. Ihnen stehen mehr als 10.000 Angestellte der 100 Senatoren und 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses sowie mehr als 3.000 Zuarbeiter der Kongreßausschüsse gegenüber. All diese Trittbrettfahrer der Macht geben der Innenstadt einen einheitlich grau -bürokratischen Look: Die Power-Mode besteht aus den ewiggleichen unauffälligen Anzügen, Hemden, Krawatten und Haarschnitten. Selbst die Frauen halten sich von gewagten Farben fern, das einzig auffällige Accessoir sind die weißen Jogging-Schuhe unter dem Büro-Kostüm.

Die Karriere eines Lobbyisten startet oft direkt nach dem College-Abschluß, das Anfangssalär der hart arbeitenden Jungbürokraten beginnt bei 5.000 Dollar im Monat. Wer den üblichen Weg vom Senatsgehilfen über einen Job in der Administration bis in die Führungsriege einer der angesehenen Anwaltsfirmen der Stadt erfolgreich beschritten hat, hat ausgesorgt. Jahresgehälter von einer Viertelmillion Dollar sind die Regel. Angesichts der mageren im Kongreß oder von der Regierung gezahlten Gehälter - 75.000 Dollar pro Jahr für einen Abgeordneten oder Senator, 80.000 Dollar für Außenminister Shultz - ist der Drang groß, den öffentlichen Dienst mit der lukrativeren Vertretung eines Privatinteresses zu vertauschen. Präsident Reagan kann davon ein Lied singen, liefen ihm doch die Untergebenen zuletzt scharenweise davon.

Washington, so der Kolumnist Fred Barnes, sei in den letzten zehn Jahren zum sicheren Hort für eine parasitäre Schicht überbezahlter Dauergäste geworden, die ihn an das alte Rom im letzten Stadium des Verfalls erinnerten. Die Gier nach Macht und Geld ist in dieser Stadt bestimmend; kein Wunder, daß es in Washington - abgesehen von Musik kaum eine aktive Kulturszene gibt. Die bürokratisierte Atmosphäre und die kulturellen Schranken zur schwarzen Bevölkerungsmehrheit haben die Freiräume für Freaks und Querköpfe in dieser Stadt kleiner gehalten als anderswo in den Vereinigten Staaten - Kreativität ist Mangelware in Washington, D.C.

Es ist eine Stadt mit einer mehrfach gespaltenen Identität: nicht nur verschließt der wohlhabende Teil ihrer Bewohner beständig die Augen vor der Realität innerhalb der eigenen Stadtgrenzen, die so getthoisierte Kultur der Macht hat, darin sind sich viele ihrer Kritiker einig, auch längst den Kontakt zur amerikanischen Wirklichkeit verloren. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn am 20.Januar 1989 George Bush oder Michael Dukakis als 41.Präsident der Vereinigten Staaten ihren Vorgänger, einen Mann namens Ronald Reagan, ablösen werden.