Mit dem Start des Sputnik

■ wurde der Planet zu einem Welttheater, in dem es keine Zuschauer, sondern nur Akteure gibt

Seine Ablehnung, für die Revue Europeenne zu schreiben, begründete Lamartine 1831 gegenüber seinem Herausgeber folgendermaßen:

Sie dürfen in diesen Worten keine selbstherrliche Verachtung dessen sehen, was man als Journalismus bezeichnet, nein, ich bin ganz im Gegenteil viel zu sehr mit meiner Epoche vertraut, als daß ich diesen absoluten Unsinn, diese impertinente Geistlosigkeit gegen die Magazin-Presse wiederholen würde. Ich kenne die Arbeit, die die Vorsehung ihr zugeteilt hat, zu genau. Noch vor Ende dieses Jahrhunderts wird die ganze Presse - das ganze menschliche Denken - Journalismus sein. Seit es die Kunst ermöglichte, die Sprache in diesem ungeheuren Ausmaß zu vervielfältigen was noch tausendfach vervielfältigt werden kann -, wird die Menschheit Tag für Tag, Stunde für Stunde und Seite für Seite ihre Bücher schreiben. Die Gedanken werden mit Lichtgeschwindigkeit auf der Welt verbreitet werden; augenblicklich ersonnen, augenblicklich geschrieben und augenblicklich in den entferntesten Erdteilen verstanden sie werden sich von Pol zu Pol ausbreiten. Spontan, plötzlich, mit der Inbrunst der Seele brennend, die sie hervorbrachte, werden die Gedanken über die menschliche Seele in ihrer ganzen Fülle herrschen. Es wird keine Zeit bleiben, sie reifen zu lassen oder in einem Buch anzusammeln, denn das Buch wird zu spät kommen. Von heute an ist das einzig mögliche Buch die Zeitung.

Die vielleicht größte Revolution, die man sich im Bereich der Information vorstellen kann, ereignete sich am 17.Oktober 1957, als der Sputnik ein neues Umfeld für unseren Planeten schuf. Zum ersten Mal wurde damit die natürliche Welt völlig in ein von Menschenhand geschaffenes Konstrukt eingeschlossen. In dem Moment, als sich die Erde in diese neue Konstruktion einfügte, hörte „Natur“ auf zu existieren, und „Ökologie“ war geboren. „Ökologisches“ Denken wurde unabdingbar, sobald dem Planeten so der Status eines Kunstwerks verliehen wurde.

Ökologisches Denken und Planen zeichneten schon immer den vorschriftlichen Menschen aus, denn er lebte nicht visuell, sondern orientierte sich akustisch. Statt äußere Ziele und Zwecke zu verfolgen, versuchte er, sein Überleben dadurch zu sichern, daß er das Gleichgewicht zwischen den Elementen seiner Umwelt aufrechterhielt. Paradoxerweise hat der Mensch des elektronischen Zeitalters viel mit der Weltsicht des vorschriftlichen Menschen gemein, da er in einer Welt unmittelbarer Informationen lebt, d.h. in einer Welt der Resonanz, in der alle Daten von anderen Daten beeinflußt werden. Der elektronische und simultane Mensch hat sich die ursprüngliche Haltung der vor-schriftlichen Welt wieder zu eigen gemacht und entdeckt, daß spezifische Zielsetzungen oder Programme nur zu Konflikten mit all den übrigen Spezialgebieten führen. „Alle Künste streben dem Zustand der Musik entgegen“, sagte Walter Pater, und unter den Bedingungen der sofortigen Information bleibt uns als das einzige Ordnungsprinzip und -mittel die Möglichkeit, Erfahrungen nach musikalischen Gesichtspunkten zu strukturieren.

Der Gutenberg-Mensch hatte im 16.Jahrhundert eine neue Art von Distanz gewonnen, die auf die neue Intensität der visuellen Erfahrung zurückzuführen ist, die sich ihrerseits aus der Innovation des gedruckten Wortes ergibt. Diese neue Betonung des Visuellen trieb die Menschen jener Zeit dazu an, ihre individuellen Ziele, ob in der Wissenschaft oder bei Reisen und Entdeckungen, bis ins Extrem zu verfolgen. Eine neue Rasse visuell orientierter Forscher von Raum und Zeit kam aus den „Höhlen“ der Gutenberg-Technologie zum Vorschein. Die Gutenberg-Innovation ermöglichte es den Menschen, die historische Vergangenheit wie nie zuvor wiederherzustellen. Die neue Geschwindigkeit der Druckerpresse schuf riesige neue politische Räume und Machtstrukturen, die auf der Entstehung eines neuen Lesepublikums beruhten. Aus der übergeordneten Figur der Presse mit ihren Fließbändern aus beweglichen Typen leiten sich die Archetypen der industriellen Revolution und die Vorstellung einer universellen Bildung ab.

Die typischen Tugenden des Menschen im Industrie- und Buchdruckzeitalter verändern sich radikal in dem Moment, in dem sich Informationen so schnell wie das Licht verbreiten. Während der visuelle Mensch von weit entfernten Zielen und riesigen enzyklopädischen Lernprojekten geträumt hatte, bevorzugt der elektronische Mensch den Dialog und die unmittelbare Teilnahme. Da bei Lichtgeschwindigkeit nichts auf der Welt weit entfernt sein kann, zieht der elektronische Mensch die innere Reise der äußeren und die innere Landschaft der äußeren vor.

Der simultane Mensch ist in seinem Geschmack paradoxerweise traditionell und einfach, er bevorzugt den Maßstab des Menschlichen gegenüber der antiken Größe, die heute leicht erreichbar ist. Der simultane Mensch ist eher akustisch als visuell orientiert, er lebt in einer Welt, die überall ihren Mittelpunkt hat und keine Begrenzungen kennt. Der Geist der Geometrie und der Quantität ist nichts für ihn; statt nach entfernten Zielen zu streben, versucht er Muster wiederzuerkennen, und anstelle einer spezialisierten Berufstätigkeit bevorzugt er das Rollenspiel und damit Flexibilität und Abwechslung. Tatsächlich wurde mit dem Start des Sputnik der Planet zum Welttheater, in dem es keine Zuschauer, sondern nur Akteure gibt. Das „Raumschiff Erde“ befördert keine Passagiere, jeder gehört hier zur Besatzung. Dabei handelt es sich nicht um den Entwurf eines Idealzustandes, sondern um die unmittelbare Realität.

(...) Es ist an der Zeit, sich die Frage zu stellen, was Neuigkeiten eigentlich sind. Ein Kunde betritt ein Antiquitätengeschäft und fragt: „Was gibt's Neues?“ Seine scherzhafte Frage weist darauf hin, daß wir im Zeitalter der gefälschten Antiquitäten leben, die auch eine Art von Wiederholung darstellen. Sind nicht auch die „Neuigkeiten“, die Nachrichten, im Medium Zeitung wiederholte Ereignisse, die in irgendeinem anderen Medium stattgefunden haben, und zwingt uns nicht dieser Wiederholungscharakter der Berichterstattung, den Abstand zwischen Ereignis und Wiederholung zu verringern? Ist dies nicht der Grund dafür, daß wir Neuigkeiten als die „letzten“ bezeichnen?

Im neuen Zeitalter der unmittelbaren Wiederholung jedoch nehmen die Neuigkeiten eine völlig neue Dimension an, die schon fast metaphysischen Charakter hat. Ein Fußballspiel oder ein Pferderennen kann nun sozusagen nur um seiner Bedeutung willen wiederholt werden, also ohne die konkrete Erfahrung. Während des eigentlichen Erlebnisses mag dies zweifelhaft erscheinen, aber, wie der Dichter sagt, „wir können an Ereignissen teilnehmen, Erfahrungen machen und dennoch ihren Sinn nicht verstehen“. Tatsächlich liegt es in der Natur der Erfahrung, daß uns ihre Bedeutung nahezu zwangsläufig entgeht. Die „Bedeutung“ oder die Beziehung, die wir selbst zu einem bestimmten Ereignis haben, wird uns vielleicht erst viel später klar. Durch die unmittelbare Wiederholung unserer Erlebnisse oder der anderer Leute ist es nun jedoch möglich geworden, den Sinn ohne die konkrete Erfahrung zu verstehen. Schiedsrichter und Juroren können auf die Wiederholung warten, um eine Entscheidung zu fällen. Sie haben das Ereignis erlebt und warten lediglich auf seine Bedeutung oder seine Beziehung zu ihnen selbst und zu anderen.

Dadurch, daß Erlebnisse unmittelbar wiederholt werden können, lassen sich Parallelen zum Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis feststellen. Erkenntnis kann um einiges nach dem Ereignis erfolgen und ist eine Art der Bewußtwerdung, die uns sagen läßt: „Oh, ich habe dich gar nicht erkannt“ oder „Oh, jetzt verstehe ich, worum es hier geht“. Erkenntnis ist Bewußtwerdung auf einer weitaus höheren Stufe als Wahrnehmung, und doch wird sie heutzutage als alltägliches und selbstverständliches Phänomen des elektrischen Zeitalters betrachtet. Die Zeitungen arbeiten schon lange mit dieser unmittelbaren Wiederholung von Erlebnissen, zumindest seit der Erfindung von Telegraf und Telefon, die schon seit Jahrzehnten zu unserem Leben gehören. Das Geheimnisvolle an dieser Informationsbeschleunigung, durch die Erfahrung und Bedeutung zusammenfallen, ist, daß das Publikum nun direkt an Geschehnissen teilnehmen kann, von denen es früher nur über eine räumliche und zeitliche Distanz hinweg erfahren hatte. Durch die unmittelbare Informationsübermittlung wird das Publikum zum Akteur, und die Zuschauer werden zu Teilnehmern. An Bord des „Raumschiffs Erde“ oder im Welttheater werden aus dem Publikum beziehungsweise der Besatzung Akteure, das heißt eher Produzenten als Konsumenten. Sie wollen die Ereignisse lieber programmieren als ansehen. Wie so oft zeigt sich auch hier die „Wirkung“ vor der „Ursache“. Durch die unmittelbare Informationsübermittlung treten Ursache und Wirkung zumindest gleichzeitig auf, und genau dieser Umstand läßt natürlich bei all jenen, die an ihn gewöhnt sind, das Bedürfnis entstehen, Ereignissen voller Hoffnungen entgegenzusehen, anstatt mit fatalistischer Haltung unmittelbar an ihnen teilzunehmen. Der Öffentlichkeit die Teilnahme zu ermöglichen, wird zu einer Art technologischem Imperativ, den man „Lapp'sches Gesetz“ nennt: „Was man tun kann, muß auch getan werden“ - ein verführerischer Ruf, mit dem uns die Sirenen der Evolution locken.

(Aus dem Amerikanischen von Ute Bechdolf und Margarete Endreß)

Gekürzt entnommen aus: „Kanalarbeit - Medienstrategien im Kulturwandel“. Der von Hans Ulrich Reck herausgegebene Band enthält u.a. Beiträge von Bazon Broch, Oswald Wiener, Friedrich Kittler, Gabriele Goettle und Micky Remann. Er ist soeben im Verlag Stroemfeld/Roter Stern erschienen