WELCOME FÜR WEISSE

■ Eine Oase für Ausländer in Madras

Willkommen! Namasta! Traveller!

Bitten Sie um Herberge an diesem unwürdigen Platz,

das Bad ist bereitet,

ein friedvoller Raum erwartet Sie.

Come in! Come in! Come in! Please!

Mit dieser metergroßen Inschrift begrüßt das „Broadlands“, seit 1951Lodging House in Madras, seine Gäste. Als ein indisches Paar an der Rezeption nach einem Zimmer fragt, ist alles belegt. Der Beleg-Plan an der Wand ist jedoch nur zu einem Viertel ausgefüllt. „Oder vermieten Sie nicht an Inder?“ insistiert der junge Mann. „Das nicht, Sir“, sagt Ganesh, der Angestellte, „es ist nur so, daß wir zur Zeit etwas voll sind.“ „Also was nun, voll oder ein bißchen voll?“ „Nein, nein, voll, ich meine, wir haben viele Vorausreservierungen.“

Das „Broadlands“ nimmt in der Tat nur Ausländer auf. Den Vorwurf der Diskriminierung seiner eigenen Landsleute versucht der Manager zurückzuweisen. Als die Pension noch für alle offen war, hätte sich ein schwunghafter Handel mit Drogen, Alkohol (in Tamil Nadu gilt Alkoholverbot) und Schmuggelware aus Fernost entwickelt. „Und wenn man die Polizei erst einmal auf dem Hals hat, wird man sie nie wieder los! Lieber verzichten wir auf die Einnahmen“, sagt Rezeptionist Ganesh und tut gerade so, als sei er der Besitzer.

In der Hauptsaison von Oktober bis März, wenn es klimatisch erträglicher in Madras ist, ist die Pension mit ihren 44 Zimmern jeden Tag ausgebucht. Das Hotel ist beides: eine Superabsteige für ausländische Touristen und No-Entry-Zone fürInderInnen. „Das beste Travellerhotel in ganz Indien“, heißt es einhellig in zahlreichen Globetrotter-Reiseführern. Angesichts der Tatsache, daß die meisten indischen Hotels der unteren und mittleren Preisklasse Gefängniszellen ähneln - winzig, fensterlos, stickig -, ist das „Broadlands“ wirklich ein Juwel. Schon das Gebäude, ein ehemaliger moslemischer Harem, ist fantastisch. Vorder- und Hinterhaus sind durch zwei Innenhöfe voller Grünpflanzen und Palmen verbunden. Jedes Jahr nach der Monsunzeit werden die Wände frisch getüncht. Die Holzumrandung der die Zimmer umlaufenden Balkone leuchtet hellblau. Von den nördllich gelegenen Zimmern blickt man auf eine weite Fläche und die große Moschee des Stadtteils Triplicane. Selbst nachts noch schallt das per Lautsprecher verkündete Allah o'Akbar des Muezzins bis unter die Moskitonetze der erschöpft ruhenden Touristen.

Das Hotel, nur zehn Gehminuten von Madras‘ Hauptverkehrs und Einkaufsstraße Mount Road entfernt, ist eine Oase inmitten der lauten, staubig-stickigen Metropole von fünf Millionen Menschen. Die Zeiten des aufregenden Nachtlebens sind vorbei. Anfang der achtziger Jahre, als das Super -Billigreisen bei westlichen Aussteigern Konjunktur hatte, beherrschten nächtliche Sessions mit Trommeln, Flöten und viel Ganja den Innenhof. Heute findet sich eher gemäßigtes Publikum ein: Studenten in den Semesterferien, beurlaubte Lehrerinnen, viele Paare Ende Zwanzig. Die ständig steigenden Zimmerpreise, die derzeit bei 78 Rupien (circa zehn Mark) für ein Doppelzimmer liegen, tun das ihrige zur Selektion der Gäste.

Wenn auch der Schlafsaal voll ist, werden Notbetten auf der großen Dachterrasse aufgebaut. Zur Freude der nebenan in einer anderen Pension wohnenden Männer, die frühmorgens beim Rasieren vom Nachbardach herübergrüßen. Geweckt werden die Gäste durch Rabengekrächze aus dem uralten Neembaum im Innenhof, auf dem tagsüber Eichhörnchen Fangen spielen. Die Männer von Nebenan zahlen für ein neun Quadratmeter großes Doppelzimmer pro Nase in einem ganzen Monat soviel wie im „Broadlands“ ein Doppelzimmer pro Nacht kostet.

Langzeitreisende und Studierende im weiteren Sinn machen den Großteil der „Broadlands„-Gäste aus. Ob von der tiefen Weisheit indischer Philosophie beeindruckt, ob fasziniert von der jahrtausenden alten Kultur, ob interessiert an Yoga, Meditation, tamilischer Sprache, Bronzebearbeitung, ob Architektur- oder Medizinstudentin im Auslandspraktikum, ob Schmuggler in Sachen Gold aus Singapur - im „Broadlands“ trifft man sich.

Zwei Frauen im „Broadlands“ sind tagein, tagaus damit beschäftigt, die verschwitzte Kleidung der Reisenden zu schrubben. Nebenan hat ein Bügler seinen Shop eröffnet, gegenüber ein Schneider, der nach Wunsch die ausgefallensten Modelle fertigt. Die Anwohner der schmalen Straße, in der das „Broadlands“ liegt, sind viel gewöhnt. Zum Beispiel in kurzen Hosen herumlaufende Menschen. Da Inder Shorts nur unter ihren Lunghis zu tragen pflegen, wirkt das im Straßenbild von Madras gerade so, als ginge jemand in Unterhosen spazieren.

Fünfzehn Mark monatlich verdient die alte Frau, die von morgens sieben bis abends sieben Uhr mit ihrem Reisigbesen das „Broadlands“ fegt. Das doppelte erhält der Zimmerjunge Murugan, der sich durch Teeverkauf noch einnige Rupien dazuverdient. In zwei Monaten will er heiraten. Die Frau, die seine Eltern im Heimatdorf ausgesucht haben, kennt er bislang nur vom Foto. Er stöhnt. Wie er eine Familie ernähren will, ist ihm völlig unklar. Parasaradi, mit seinen 41 Jahren Senior Roomboy, kann mit dem Gehalt nur überleben, weil er im Besitz einer staatlichen Lebensmittelkarte ist. In den Rationshops kostet das Kilo Reis statt 4,50 nur 2,60 Rupien. Außerdem gibt es auf der Karte Speiseöl, Zucker, Mehl. Parasaradi, seit sechs Jahren im „Broadlands“ tätig, muß zwei Kinder im Alter von fünf Jahen und sechs Monaten, seine Ehefrau und seine Mutter ernähren.

Die Zimmerjungen werden durch Mundpropaganda aus immer denselben Dörfern rekrutiert. Einer der wenigen, die von sich aus dann den Absprung vom „Broadlands“ geschafft haben, ist Krishnasamy. Ab und zu schaut er herein und berichtet stolz von seinem Stand am Bahnhof, wo er Plastikgeschirr verkauft. Nante, der jüngste roomboy, hat die zehnte Klasse beendet, spricht gut englisch, seine Schwester studiert Chemie. Für seine weitere Ausbildung reichte das Geld nicht. Die 15 Angestellten des Hotels werden von Herrn Bhimarao gemanagt. Er vermittelt zwischen Gästen und Personal und dem Besitzer des „Broadlands“, Herrn Kumat, der von allen gefürchtet wird.

Erst kürzlich wurde ein Zimmerjunge wegen unentschuldigten Fehlens eigenhändig von Kumat zusammengeschlagen und anschließend entlassen. Bei Rausschmissen sind die Betroffenen völlig rechtlos, sie packen ihre Sachen und müssen gehen. Selten steigt der Besitzer Kumar bei seinen Hausinspektionen die zwei Treppen bis ins Obergeschoß hoch. Und so macht dort im kühlen Treppenhaus das Personal so oft wie möglich Pause. Während in einer Ecke auf dem Kerosinkocher der Reis gart, wird lebhaft erzählt. Mittags sitzen dort Zimmerjungen und Putzfrauen zusammen, essen mit den Fingern aus einem Blechnapf und bieten gerne den über sie hinwegsteigenden Ausländern von ihrem Sappadu an.

Etwa 100 Meter vom Hotel entfernt befindet sich das beliebteste Restaurant Triplicanes, das „Maharadja“. Die Kellner flitzen barfuß und in blauverwaschenen Uniformen um die Tische, schenken Wasser nach und verscheuchen auch schon mal eine Kuh, die sich ins Lokal verirrt hat. Kaum schiebt man den letzten BissenIddli, Dosa, oder Uttapam in den Mund, wird der Teller weggezogen. Restaurants in Madras sind Massenabfüllbetriebe, für besinnliche Gespräche bleibt kein Raum. Morgens um sechs Uhr kann man vom Dach des „Broadlands“ beobachten, wie sich im Hinterhof des „Maharadja“ die Kellner hochrappeln, an der Handpumpe die Zähne putzen und mit frisch geölten und gescheitelten Haaren zum Dienst antreten. Ein Kellner verdient durchschnittlich monatlich 20 Mark, eine Summe, die man im air-conditioned Raum des „Maharadja“ zu viert leicht an einem Abend verspeist. Wie in vielen indischen Restaurants wird auch im „Maharadja“ ein Großteil der Arbeit von Kindern getan: Tische abwischen, abwaschen, putzen. Trotz offiziellen Arbeitsverbotes sind in ganz Indien nach vorsichtigen Statistiken des indischen Arbeitsministeriums 44 Millionen Kinder im Alter von fünf bis 15 Jahren beschäftigt.

Nach den ersten Schocktagen für Neuankömmlinge aus dem Westen steigt man als TouristIn alsbald sicheren Schritts über die auf den Bürgersteigen liegenden Menschen, über weinende Babies und Exkremente, von denen Fliegenschwärme aufsteigen, hinweg und läßt sich zwecks Buchung des Weiterflugs ins Air India- oder KLM-Büro bringen. Oder man leistet sich für umgerechnet sieben Mark ein exzellentes Lunch Buffet im Hotel Connemara. Unter blassen Geschäftsleuten aus dem Westen und blonden englischen Familien fühlt man sich zwar auch nicht ganz zu Hause, aber nach all den Anstrengungen eines Traveller-Lebens meint man, sich diesen Luxus verdient zu haben. Sobald jemand aus dem „Broadlands“ abreist, eilen Zimmerjungen und Putzfrauen herbei. Etwas Brauchbares, und sei es nur eine leere Plastikflasche im Abfall, hinterläßt jeder Gast. Besonders gekämpft wird um alte Zeitungen, die als Einwickelpapier weiterverkauft werden.

Wie heißt es doch in einem dieser Reiseführer, die unter Titeln wie „Überlebenshandbuch“ oder „Südindien - unterwegs in Paradies und Hölle“ auf dem Markt sind, im Kapitel „Verhalten“: „Bei einer Hilfsorganistaion vor der Abreise eine Spende zu hinterlassen, wäre keine schlechte Idee.“

Biggi Wolff am 16.10.88