Alokeranjan Dasgupta

■ Fußweg der Chowringhee / Der bengalische Literat beschreibt seine Stadt Kalkutta

Alokeranjan Dasgupta FUßWEG DER CHOWRINGHEE

Der bengalische Literat beschreibt seine Stadt Kalkutta

Auf dem Weg der Chowringhee / schenkt die Wunschkuh meines Jahrhunderts /

schwarze bleifarbene Milch aus /

wer trinkt der muß sterben /

wer nicht trinkt /

dessen Dummheit mag ich nicht.

Unterwegs zu einer Dichterlesung verweile ich einige Minuten an dem Hauptverkehrsknotenpunkt Kalkuttas, Chowringhee, dem durch die ständig zunehmende Umweltverschmutzung irreparable Schäden zugefügt wurden. Menschengewoge, wohin ich schaue. Gerne würde ich mir einbilden, daß diese Leute zu meiner Veranstaltung streben. Welch eine Einbildung! Sofort aber leuchtet mir tröstend ein, daß dieser Menschenandrang auch Poesie in sich birgt. An einer Straßenecke verkauft ein fliegender Händler - einen Palmblatthut auf dem Kopf - in Plastikbeutel verpackte Milch. Im Reflex ziehe ich rasch meinen kleinen Notizblock aus der Rocktasche und fixiere dieses Gelegenheitsgedicht.

Zu meiner Enttäuschung muß ich mir dann jedoch eingestehen, daß sich aus meinem Unterbewußtsein eine Überlieferung einschlich. Die Legende sagt, daß hier inmitten eines dichten Dschungels ein Mönch namens Chowringhee lebte, der eine Molkerei betrieb. Heute finden wir an dieser Stelle einen Dschungel anderer Art - aus Menschen. Die Milch, die sie trinken, ist verseucht.

Kalkutta steht bald vor seiner 300-Jahr-Feier. Die Stadt entstand aus drei beieinanderliegenden Dörfern hier im fruchtbaren Gangesdelta. Am 24.August 1690, einem monsunbeladenen Tag, warf der bis dahin unbekannte Angestellte der ostindischen Kompanie, Job Charnock, seinen Anker am Gangesufer. Sofort verliebte er sich in diese Gegend, heiratete eine Hinduwitwe, nannte sich selbst stolz „Entdecker Kalkuttas“ und kehrte nie wieder in seine britische Heimat zurück.

Schon zu Beginn der Kolonialisierung siedelte sich hier Industrie an und zog von fern und nah zahllose Arbeitswillige herbei. So wurde Kalkutta von Anfang an zur Bleibe für Emigranten. Schon 1830 wies die Stadt die stolze Einwohnerzahl von 230.000 auf. Heute leben hier etwa 15 Millionen Menschen eng zusammen. Trotz der entsetzlichen Raumnot strömen Menschen aus allen Teilen Indiens hierher und wollen nicht mehr fortgehen. So bewahrheitet sich das bengalische Sprichwort „Auf einem kleinen Tamarindenblatt können alle meine Freunde gleichzeitig zusammen wohnen“. Während des Bangladesh-Krieges (1971) wurde Kalkutta von mehreren Millionen politischer Asylanten überschwemmt. Sie machten diese Metropole zu ihrem strategischen Kampfstützpunkt hier in Westbengalen, um ihre verlassene bengalische Heimat von der pakistanischen Obermacht zu befreien. Sie siegten - Bangladesh, das „Land der Bengalen“, wurde geboren - die meisten Flüchtlinge kehrten jedoch nie mehr dorthin zurück.

In Wirklichkeit will Kalkutta gar keine besondere Faszination auf Fremde ausüben. Im Gegenteil. Die Kalkuttaner schicken in der Regel sogar die VIP-Gäste in abgelegene Gegenden, denn sie wissen, daß die hohe Luftfeuchtigkeit ihrer Stadt (im Sommer meist 98 Prozent) nahezu unerträglich ist. Sie wissen auch, daß sie nicht, verglichen mit Delhi oder Bombay, mit überwältigenden touristischen Sehenswürdigkeiten aufwarten können. Es geschah im Februar 1896, das Klima war so herrlich, wie es in Garmisch-Partenkirchen im Frühjahr zu sein pflegt, daß Mark Twain das Herz Kalkuttas an Ort und Stelle erkunden wollte. Aber Kalkutta sandte ihn in die Bergwelt des bengalischen Darjeeling, wo er die Schönheit des Schnees genoß. Das war für Kalkutta Grund genug, sich zu freuen. Als Arthur Koestler 72 Jahre später diese Stadt besuchte, wurde er von der atemberaubenden Freundlichkeit der Menschenmassen derart überrumpelt, daß er von einem „lausigen, bestialischen Universum“ sprach. Jetzt waren die Kalkuttaner traurig.

Nicht, daß diese Riesenstadt keinerlei Touristenattraktionen anzubieten hätte. Im Herzen der Stadt breitet sich eine Golf-Grünfläche aus, die für die Millionen der Stadt sauerstoffreservoir-ähnliche Funktionen übernimmt. Alte Asketen und junge Verliebte sind hier in diesem dem Hyde Park vergleichbaren Gelände ungestört. Das nahe Viktoria-Memorial, das nach dem Vorbild des Taj Mahal aus rajasthanischem Marmor erbaut wurde, aber weit mehr dem Pariser Sacre Coeur ähnelt, bleibt ein beliebtes Ausflugsziel. Unweit davon die spätgotische St.-Pauls -Kathedrale mit ihrer weitläufigen Parkanlage, in welcher Hans-Günter Heyme 1979 wochenlang meine bengalische Bearbeitung von Sophokles‘ Antigone aufführte.

Vor kurzem wurde die U-Bahn eingeweiht, die den häufig zusammenbrechenden Verkehr entlastet. Das Heer der Arbeitenden ebenso wie die Arbeitslosen zieht es am Abend nicht unbedingt nach Hause zurück. Sie suchen und finden Unterhaltung in unzähligen Kinohäusern. Oder sie gehen zum von Wasserfontänen umgebenen - Rabindrasadan (einem nach Rabindranath Tagore benannten Kulturzentrum). Hier werden an 365 Tagen - das ganze Jahr hindurch - kulturelle Veranstaltungen wie Tanz, Musik, Theater verschiedenster Art angeboten. Ergattert man hier keine Eintrittskarte, so eilt man zur Academy of Fine Arts, um eine Kunstausstellung oder das letzte Stück irgendeiner avantgardistischen Theatergruppe zu erleben.

Freizeit um der Freizeit willen hat für den Kalkuttaner meist keinen Sinn. Er sucht dauernd einen Vorwand, ausgehen zu können. Geht er in die Birla-Sternwarte, so tut er das nicht, um den nächtlichen Sternenhimmel zu betrachten, sondern er will gleichzeitig eine Volksoper hören. Besucht er das Ochterlony-Monument (errichtet 1828 zu Ehren von Sir David O., der einen siegreichen Krieg gegen Nepal führte), das heute Shahid Minar (Märtyrerturm) heißt, so tut er dies weder um dem Feldherrn zu huldigen noch um das 48 Meter hohe Bauwerk zu bestaunen. Er will an den täglich stattfindenden politischen Veranstaltungen teilhaben.

Es ist die unverwechselbare politische Kultur, die die Menschen dieser Stadt zusammenbündelt. Das berühmt -berüchtigte Writers Building, in dem die Maschinerie der Stadtbürokratie seit der Kolonialzeit abgewickelt wird, dient als kafkaeske Kulisse der Demonstrationszüge. Diese Szenerie übte auf Shirley MacLaine einen speziellen Reiz aus. Jeder ihrer Kalkuttabesuche führte sie an diesen Platz. Es bleibt offen, ob sie hier an Brechts Alltagstheater dachte oder glaubte, einen passenden Schauplatz der Selbstinszenierung gefunden zu haben. Was auch immer die Gründe sein mochten, eines ist klar: Demonstrieren ist zur zweiten Haut der Klakuttaner geworden. Bereits 1830 versammelte sich dort die Intelligensia, um den Sieg der französischen Revolution zu bejubeln. 1935 wurde hier die Antifaschistische Liga gegründet, deren Aufgabe es war, sich für die Unterdrückten der ganzen Welt einzusetzen. Ihr Vorsatz war es, keinerlei Interventionen der Mächtigen, auch keine mit caritativen Verzierungen verbrämten, zu dulden. Ein hervorragendes Beispiel hierzu sei genannt: Als der Weltbankpräsident McNamara 1968 mit einem phantastischen Entwicklungsprogramm - die Stadt sollte kostenlos von Grund auf saniert und verschönert werden - auftauchte, wurde er von 50.000 schwarze Fahnen schwenkenden Menschen vetrieben. Der arme reiche Mann flog betreten nach Delhi, wo es ihm nicht schwerfiel, seine Spende loszuwerden.

Zweifelsohne kann man ein solches Verhalten als selbstzerstörerisch abtun. Dennoch kann man die Behauptung riskieren: Der Kalkuttaner beharrt unbeugsam auf seinem Unbehagen, um seine Identität nicht zu verlieren. Kalkutta, die Geheimmetropole der sogenannten Dritten Welt, das Lenin als Ausgangspunkt einer Weltrevolution anvisierte, bleibt ein ständig brodelnder Schmelztiegel revolutionärer Experimente. Die gescheiterte Revolution a la Mao Tse Tung der siebziger Jahre hat hier ihre tiefen Spuren hinterlassen: Arzthonorare werden den finanziellen Möglichkeiten der Patienten angepaßt, selbstherrliche Entscheidungen der Vorgesetzten lassen sich nicht ohne weiteres durchführen, jedermann auf der Straße glaubt zu wissen, daß er irgendwie an der Weltgeschichte mitwirkt.

Hier wird das Außerbengalische regionalisiert. Das alte Gesicht der China Town bleibt in sich zufrieden. Die chinesischen Zeitungen Kalkuttas berichten ausführlich über Spezialmenüs hunderter von China-Restaurants, deren Spezialitäten für die Bengalen ebenso begehrt sind wie die einheimische Küche.

Keine Glaubensrichtung ist in dieser Stadt unerwünscht. Anderswo in Indien begegnen die turbantragenden Sikhs, die für ein eigenes „reines“ Land (Khalistan) kämpfen, Feindseligkeiten. Hier in Kalkutta bewegen sie sich frei. Sie sind zu einem unentbehrlichen Teil der Stadt geworden. Diese Punjabi sprechenden treffen sich in ihren eigenen Restaurants mit Hindus und Moslems, wo ihre Diskussionen durch würzige Speisen skandiert werden. Fundamentalismus verliert in Kalkutta jede Kontur.

Im Gegensatz zu den üblichen Behauptungen kommt die Frau hier keineswegs zu kurz. Überall „steht sie ihren Mann“. In den drei voneinander unabhängigen Universitäten drängen sich bildungshungrige, heiratsunwillige Mädchen.

Nicht weniger hervorzuheben ist die Bedeutung der Hausfrau, deren Archetypisierung als Göttin „Durga“ („die Unbesiegbare“) ein charakteristisch bengalisches Phänomen ist. Im Herbst wird sie feierlich verehrt, wobei sich neben Hindus auch Andersgläubige - sogar Konfessionslose beteiligen. Das Fest endet mit der Versenkung der Durga-Lehm -Standbilder in den Fluten des Ganges. So wird die herrliche Vergänglichkeit des säkularen Lebens versinnbildlicht. Dies alles geschieht in einer Stadt, die zwischen Leben und Tod ihr heikles Gleichgewicht hält.

In dieser - von vielen so sehr verdammten - Stadt kommt es vor, daß der Tod eines Bettlers, der angeblich mißhandelt wurde, ein Lauffeuer auslöst, das einen allgemeinen Busstreik zur Folge hat. Ausgerechnet an so einem Tag wollen Freunde Freunde besuchen. Sie nehmen meilenweite Fußstrecken auf sich, nur um Gedanken auszutauschen. Diese unprogrammierten Zusammenkünfte lassen uns in Kalkutta den eigenen Kleinkram vergessen. Allen Ginsberg, der Guru der Beatnik-Generation, empfand eben dies, als er Kalkutta verließ. Beim Abschied sagte er zu uns nüchtern, aber doch nostalgisch: „Hier konnt‘ ich euch jederzeit unangemeldet stören. Das wird mir in Amerika verdammt fehlen.“