Staatsanwaltschaft liegt unterm Bett

■ Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs: Ungeschützter Sex von HIV-Infizierten ist strafbar / Harte Linie bei Aids-Urteilen bestätigt / Gericht spricht von „versuchter gefährlicher Körperverletzung“ / Deutsche Aids-Hilfe: Schlag ins Gesicht aller Infizierten

Karlsruhe (dpa/taz) - Ungeschützter Sex von HIV-Infizierten ist strafbar. Und selbst wer das Ansteckungsrisiko durch Koitus interruptus herabsetzt oder teilweise ein Kondom benutzt, steht mit einem Bein im Gefängnis. Dies ist der Tenor der gestrigen Grundsatz-Entscheidung des Bundesgerichtshofes. Die Karlsruher Richter bestätigten damit die Rechtsauffassung des Nürnberger Landgerichtes, das vor einem Jahr den 47jährigen Koch der US-Army, Linwood B., zu zwei Jahren Knast verurteilt hatte. Der BGH hatte sich erstmals mit der strafrechtlichen Verurteilung eines HIV -Infizierten befaßt. Das Urteil wird deshalb Maßstäbe für die künftige Rechtsprechung der Landgerichte setzen. Der Fall wurde vom BGH trotz der Bestätigung im Grundsatz wieder an das Landgericht zurückverwiesen, weil die Gefängnisstrafe von zwei Jahren als zu hart angesehen wurde. Die Deutsche Aids-Hilfe hat das Urteil als „Katastrophe“ und „Schlag ins Gesicht aller Menschen mit HIV“ scharf kritisiert.

Die Infektion des homosexuellen Amerikaners war 1986 bei einem freiwilligen Aids-Test festgestellt worden, hieß es. Danach sei er eingehend belehrt worden. Zur Verhandlung standen jetzt zwei Sexual-Kontakte, bei denen er teilweise ungeschützten Anal- und Oralverkehr hatte. Linwood B. hatte allerdings vor der Ejakulation ein Kondom aufgezogen bzw. beim Oralverkehr Koitus interruptus praktiziert. Bei seinen beiden Partnern konnte bis heute keine Ansteckung festgestellt werden. Dennoch schloß sich der BGH dem Urteil des Nürnberger Landgerichts an und sprach von einer versuchten gefährlichen Kör Fortsetzung Seite 2

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perverletzung. Das Landgericht sei außerdem zutreffend davon ausgegangen, daß der Angeklagte mit „bedingtem Vorsatz“ gehandelt und die lebensbedrohliche Gefährdung seiner Partner billigend in Kauf genommen habe. Die Frage des Vorsatzes müsse bei ähnlich gelagerten Fällen in jedem Einzelfall geprüft werden, schränkte das Gericht ein. Kritiker dieser Rechtsposition hatten mehrfach darauf hingewiesen, daß im vorliegenden Fall kein Vorsatz, sondern grobe Fahrlässigkeit vorliege.

Das Gericht ging auch auf das statistische Ansteckungsrisiko ein, das zwar niemand genau kennt, das aber z.B. beim deutschen Aids-Zentrum auf 1:100 bis 1:1000 pro Sexualkontakt geschätzt wird. Auch bei einem rein statistisch gering eingeschätzten Ansteckungsrisiko könne jeder ungeschützte Sexualkontakt derjenige sein, der eine Ansteckung zur Folge hat, erklärte der BGH.

Vorsichtige Distanz ließ das Gericht mit der Formulierung erkennen, daß das Urteil des Nürnberger Gerichts „nicht zwingend, aber schlüssig“ sei. Diese Schlüssigkeit sei aber für den BGH ausreichend. Die Frage der Eigenverantwortlichkeit der Partner des Angeklagten wies das Gericht zurück: Man dürfe nicht von einer „eigenverantwortlichen Selbstgefährdung“ ausgehen. Einen Tötungsvorsatz schloß der BGH aus.

Die Deutsche Aids-Hilfe kritisierte in ihrer Stellungnahme, daß es der BGH offen gelassen habe, welche Sexualpraktiken künftig unter den Straftatbestand fallen und welche nicht. Weiter heißt es: „Wenn zwei Menschen miteinander Sex haben, wissen Sie, daß jeder für sich selbst verantwortlich ist.“ Die Aids-Hilfe befürchtet außerdem, daß ihre Beratungsarbeit durch das Urteil erschwert wird. Menschen mit HIV können sich anderen Personen nicht mehr anvertrauen, wenn sie damit gleichzeitig Straftaten zugeben müssen. Gefordert wird ein Aussageverweigerungsrecht für die Mitarbeiter der Beratungsstellen. Aktenzeichen: 1StR 262/88

Manfred Kriener