Seh'n oder Nichtseh'n

■ Lea Roshs pädagogische Veranstaltung „Freitagnacht“: „Mußte man Nazi werden?“

Im Mai dieses Jahres hat sich der Publizist Lothar Baier in der „Frankfurter Rundschau“ mit dem „Fall Paul de Man“ beschäftigt, dem französischen „Dekonstruktivisten“, der posthum als intellektueller Kollaborateur der Nazis erkannt worden ist. Baier nimmt diesen Fall - der an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden soll -, zum Anlaß, den „nachträglichen Antifaschismus“ in seiner historischen Genese zu analysieren:

„Wenn man heute von einem breiten, wenn auch nachträglichen Antifaschismus sprechen kann, dann muß man auch von dem sichtbaren Erfolg vielfältiger pädagogischer Anstrengungen sprechen... Aber dieser Erfolg ist zugleich von den Bedingungen gekennzeichnet, unter denen Pädagogik innerhalb der Medienkultur stattfindet. Dazu gehört das Denken in Kategorien, das die Einteilung der Welt erleichtert...Der Antifaschismus bietet sich der Einteilungspädagogik an, weil er selbst eine Wahl ist und ein Drittes ausschließt. Aber er ist zu seiner Zeit eine Wahl gewesen, die ein Drittes ausschloß, weil er dem Kampf um Leben und Tod entsprang. Der nachträgliche Antifaschismus... krankt daran, daß er die Distanz, die ihn von der Nazi-Periode trennt, weniger zur Differenzierung nützt, als sie überspringt und sich die Eindeutigkeit jeder Form von Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu Einteilungszwecken ausleiht.“ (FR vom 21.5.88).

An diese Analyse mußte ich am Freitag denken, als auch bei Lea Rosh im Studio eindeutig eingeteilt und nicht differenziert worden ist, als dort eine Phalanx von Antifaschisten saß, nachträgliche und damalige - „Gute“ in jedem Fall -, die mit ein paar „Bösen“ angereichert waren. Bösen, die heute noch sagen, „man“ hätte das damals alles nicht so recht durchblicken können, wie Hans Hellmut Kirst und zwei alte Damen, die während der Nazi-Zeit junge Mädchen waren.

Die „Guten“: Gräfin Maria Maltzan, eine imponierende, humorvolle Person, die damals viele Verfolgte, vor allem Juden, versteckt hat und das deshalb getan hat, weil es „selbstverständlich“ war. Egon Monk, Regisseur der „Bertinis“, der Schriftsteller Ralph Giordano („Die Bertinis“), dann ein Herr Heitmann, der „früh mit dem Widerstand begonnen hat“ (Rosh), und die unvermeidliche Anja Rosmus, deren Passauer Nazi-Forschungen in sämtlichen Medien Furore machten.

Gut. Und was kommt heraus bei einer solchen Diskussion, wenn sie auch noch im preußisch-schneidenden Stil von Lea Rosh geführt wird? Fragen kommen heraus, rhetorische, zur Schulmeisterei herabgesunkene Fragen, und darum auch nicht eine Antwort: „Warum haben Sie damals keinen Widerstand geleistet, so wie Gräfin Maltzan?“ „Wenn eine jüdische Mitschülerin verschwunden ist, dann fragt sich doch jeder normal denkende Mensch: Wo ist sie denn?“ „Wir haben eine Bücherliste angefertigt, und wir meinen, Sie, die Zuschauer, müssen die von uns anfordern.“

Jawoll, Lea Rosh, sie wird vom einen oder anderen angefordert werden, die thematisch passende Bücherliste. Wir sind uns ja alle einig in unserer Empörung darüber, daß „es hier immer noch kein Holocaust-Denkmal“ gibt, und trotzdem läuft mir bei dieser Formulierung, nicht bei dem, was sie benennen will, ein kalter Schauer über den Rücken. „Holocaust-Denkmal“, was für ein eiseskaltes Wort ist das. Und wenn Anja Rosmus, die beredt-kämpferische Nazi -Forscherin, von einem Buch erzählt, in dem sie „ganzseitig, damit es deutlich wird“, Fotos von jüdischen Familien zeigt, „die genau so aussehen wie wir“, will sie damit natürlich, redlich, der Idiotie einer Rassentheorie entgegentreten, aber hinter der Redlichkeit hockt unbemerkt eine schreckliche Konsequenz: Was ist, wenn Menschen nicht so aussehen wie du und ich? Und was, wenn Menschen auf der Würde ihres Andersseins bestehen? Nein - niemand hat gestutzt bei der verdienstvollen Tätigkeit von Anja Rosmus. Es herrschte ein solider, made-in-Germany-Konsens der nachträglichen und damaligen Antifaschisten, die „das Gute“ auf ihrer Seite wissen.

„Was können wir daraus lernen?“, fragte Lea Rosh mehrmals stereotyp. Wir wollen zu den Guten gehören, lernen wir, ohne irgend etwas zu begreifen.

Sybille Simon-Zülch