Liebe des Gymnasiasten

■ Unruhige Jugend vor 60 Jahren: Weltschmerz, Mord und Selbstmord

Das Publikum zeigte überschwappende Teilnahme, Säle und Flure des Moabiter Kriminalgerichts waren voll, und die Zeitungen ebenfalls. Verhandlungsprotokolle, krimino-, psycho-, patho- und sexologische Gutachten füllten vor 60 Jahren die Blätter, denn es ging um „die Jugend“ ganz allgemein: ist sie frühreif oder überfordert, verlassen oder verdorben?

Vor Gericht stand der Gymnasiast Paul Kranz. Angeklagt war er - zunächst - wegen „gemeinsamen Mordes“. Zu Tode gekommen, durch zwei Pistolenschüsse, war der gleichaltrige Koch Hans Stephan, allerdings nicht durch Paul Kranz, sondern durch dessen Freund Günter Scheller. Der hatte sich, sofort im Anschluß an den Mord, selbst eine Kugel in den Kopf gejagt. Pistolen-Eigner Paul Kranz war nicht nur der Eigentümer der Waffe, sondern hatte im Laufe einer durchzechten Nacht mit Scheller die Bluttat verabredet: Den erschossenen Koch betrachtete Günter Scheller, von Glas zu Glas mehr, als seinen „Feind“, weil der ihn angeblich mal „verraten“ hatte. Kranzens Motiv, bei dem Komplott mitzumachen, lag in der betreffenden Nacht nicht weit vom Ort des Saufgelages entfernt. Es hieß Hilde, war Günters Schwester, und verbrachte die Nacht neben dem Koch. Mit dieser Hilde hatte Paul genau eine Nacht zuvor sein erstes „erotisches Erlebnis“ gehabt.

„Ein Opfer dieser verhängnisvollen Zeit“ sei es, das da vor Gericht stünde, meint der Gerichtsreporter schon am Anfang des Verfahrens. Als letzter einer Reihe von Gutachtern plädierte der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld auf in mehrfacher Hinsicht begrenzte Zurechnungsfähigkeit des Jünglings zur Tatzeit. Nicht nur der Suff, auch der Weltschmerz hatte die beiden Gymnasiasten in der Tatnacht angewandelt. So verfaßten sie, immer noch zögernd, einige Abschiedsbriefe, darunter einen an „das liebe Weltall“, in dem der hochgeistige, aber unentschlossene Paul seinen Tod einer „Idee“ weihte: „Die Schranken der Menschheit, keine Klassengegensätze, sondern Rassengegensätze, Weiße contra Schwarze, Gelbe.“ Ob er „feige“ sei, mußte er sich von Scheller fragen lassen, als er angesichts des Höhenfluges seine Eifersucht hintanstellen und das Komplott fallenlassen wollte. Er verneinte und ging, das brachte die Verhandlung zutage, immerhin noch mit in das Schlafzimmer, in dem sich der Koch versteckt hatte, als Hilde am Morgen nachsehen wollte, ob die Luft rein sei. Ernst mit seinem Vorhaben und seinem Weltschmerz machte dann schließlich nur Günter.

Nichts wurde ausgelassen im Verfahren, nicht die Glaubwürdigkeit der 16jährigen Hilde, nach Zeugenaussagen des Polizeipräsidenten, der sie verhört hatte, ein „außerordentlich unglaubwürdiges Kind„; nicht ihre psychologische Begutachtung, die ermitteln sollte, wie begründet Pauls „Besitzansprüche“ denn waren, und auf die Diagnose hinausliefen, sie sei eine „demi-vierge“, deren „Handeln in erotischer Beziehung“ darin bestünde, „stets das Letzte zu verweigern„; nicht die Abschwächung der Anklage auf Beihilfe zum Totschlag; nicht der Nervenzusammenbruch des Angeklagten. Sogar der Gerichtsreporter war so gebeutelt, daß er gleich zweimal in einer Woche titelte: „Schwere Zusammenstöße im Kranz-Prozeß“.

Der Staatsanwalt plädierte schließlich auf ein Jahr Gefängnis, doch das Gericht entschied auf Freispruch. In der Spätausgabe des 'Vorwärts‘ hieß es allerdings, nachdem nun einer der „häßlichsten Prozesse“ seit langem zu Ende gegangen sei, frage man sich, ob sich die Öffentlichkeit genauso aufgeregt hätte, „wenn Paul Kranz ein Fürsorgezögling, Günter Scheller ein Arbeiterjunge und Hilde Scheller ein sogenanntes öffentliches Mädchen gewesen wären“. Wohl nicht - es sei ein „ausgesprochener Gymnasiasten-Prozeß“ gewesen.

Katharina Rutschky

(Quelle: Februar-Ausgaben des 'Berliner Tageblatts‘, 'Vorwärts‘)