Im Schatten des Kriegerdenkmals

■ Die jüdische Familie Cohn verbrachte die „Reichskristallnacht“ im Rotenburger Amtsgericht / Fünf Jahre später in den Gaskammern von Auschwitz ermordet / Fünfzig Jahre später sind alle für einen Gedenkstein

Alljährlich zum „Volkstrauer tag“ ist das Rotenburger Krie gerdenkmal Schauplatz militärischer Traditionspflege: Schützenvereine im vollen Wichs, der Kyffhäuserbund und nicht zuletzt Soldaten des Heeresflieger-Bataillons mit Gewehren und brennenden Fackeln treten im Geviert bei dem martialischen Bauwerk an: Es ist eine mehr als vier Meter hohe Säule, aus Feldsteinen gemauert. Ihr Durchmesser beträgt fast fünf Meter. Redner bei der Kundgebung des letzten Jahres: Stadtdirektor Ernst-Ulrich Pfeifer (CDU).

Neben diesem Kriegerdenkmal soll, so hat der sozialdemokratische Bürgermeister Bodo Räke vorgeschlagen, ein Gedenkstein an Rotenburger Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Daß überhaupt Juden in ihrem biederen Städtchen an der Wümme verfolgt worden sind, das wollten die Stadtväter fünfzig Jahre danach gar nicht wahrhaben. Die Cohns seien schon

1929 allesamt nach England ausgewandert, hieß es in einem Brief des stellvertretenden Stadtdirektors Scheunemann an die örtliche DKP.

Diesen Irrtum hat die Stadt inzwischen eingesehen. Hilde Jacobsohn, von der DKP in Greifswald aufgesucht, hat die Leidensgeschichte ihrer Familie unzweideutig beschrieben. Umstritten ist, ob der Gedenkstein wirklich neben dem Kriegerdenkmal stehen soll. „Meinen Sie, daß es Opfer erster und zweiter Klasse gibt?“, fragt der Stadtdirektor Pfeiffer.

Heute, am 50sten Jahrestag der „Reichskristallnacht“, wird es in Rotenburg eine Mahnwache geben. Sozialdemokraten, DKP -Leute und Grüne werden auf dem Pferdemarkt stehen, vor dem Amtsgericht der Stadt, wo im November 1938 jüdische Bürger eingesperrt waren: Gertrud und Hermann Cohn. Die Demonstranten erinnern heute an die Pogromnacht und fordern zugleich einen Gedenkstein für die Opfer. Dar

auf sollen auch die Namen der Cohns stehen. Denn die Eheleute sind zwar nach der „Reichskristallnacht“ aus dem Rotenburger Gefängnis wieder freigekommen. Aber fünf Jahre später endete ihr Leben in den Gaskammern der Nazis.

Schon im April 1933, gerade acht Wochen nach der „Machtergreifung“ hatte der Boykott des Cohnschen Textilgeschäfts begonnen. SA-Posten zogen vor dem Laden auf. Auf ihren gelben Transparenten stand: „Nicht beim Juden kaufen“, „Dem Juden keinen Pfennig“.

1934 ging das Cohnsche Geschäft in Konkurs. Die Kreissparkasse kaufte das Haus und gab es zu einem Spottpreis an die Familie Gehrken weiter, die es noch heute bewohnt. Hermann Cohn arbeitete fortan als Hausierer. Kurz nach der Pogromnacht von 1938 wurde den Juden der Hausierhandel verboten. Ein Jahr darauf zogen Hermann und Gertrud Cohn nach Berlin, wo es noch Ar

beitsmöglichkeiten für Juden gab. Gertrud Cohn arbeitete bei Siemens. Beide mußten den Judenstern tragen. Im März 1943 wurden sie nach Auschwitz deportiert. Ihre Tochter Hildegard war 1939 nach England geflohen. Sie lebt heute in Greifswald in der DDR.

Daß ein Gedenkstein aufgestellt werden soll, darüber besteht jetzt, nach jahrelangen Auseinandersetzungen, Einigkeit. Einig sind sich die Parteien sogar, was es der Stadt wert sein soll, sich eines in ihrer Mitte begangenen Verbrechens zu erinnern: 10.000 Mark schlug die SPD auf einer offenen Stadtratssitzung am Montag vor - unterm Kopfnicken der anderen Räte.

Aber: Wie soll der Stein aussehen, und wo soll er stehen? Darüber wird in Rotenburg wohl noch gestritten werden. „Zur Erinnerung an alle Opfer und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus.“ Diese Inschrift stellt sich die DKP vor. Darunter

sollen die Namen der Cohns eingraviert sein, aber auch der eines Rotenburger „Bibelforschers“, der im KZ umkam, sowie eines Jugendlichen, der der Euthanasie zum Opfer fiel. Stadtdirektor Ernst Ulrich Pfeiffer (CDU) möchte gern etwas allgemeiner bleiben. Er schlägt ein Zitat aus der Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker vor: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“.

Ebenso strittig ist der Standpunkt: Die Grünen, die DKP und die Gewerkschaften verlangen, daß der Gedenkstein auf dem Pferdemarkt aufgestellt wird, dem zentralen Platz des Städchens. Stadtdirektor Pfeiffer interessiert an dem aktuellen Streit nur eins, wie er der taz vorgestern sagte: „Daß das nicht in der Öffentlichkeit diskutiert wird, weil es der Sache nicht dient. Die Aufarbeitung der Geschichte ist in einer oder zwei Generationen nicht möglich“.

Michael Weisfeld