Grenzsetzung-betr.: taz-intern, Prozeß einer Grenzziehung

betr.: taz-intern, Prozeß einer Grenzziehung

(...) Kapielskis Artikel und die ersten Stellungnahmen dazu (Verweis auf Brinkmann etc.) waren dummfrech (in dieser Reihenfolge), denn erstens sind Worte wie „gaskammervoll“ tatsächlich eine ungeheure Verharmlosung, ja Verniedlichung der Naziverbrechen, und zweitens nützt das Zitieren eines Beispiels aus der Literatur gar nichts. Soweit die Dummheit. Die Frechheit besteht darin, das ganze auf einen Streit um „schlimme Wörter“ zu reduzieren.

Niemand wird im Ernst behaupten, Kapielski wäre ein Rassist. Auch die verantwortlichen Redakteurinnen sind sicher keine, aber was sind sie dann? Was soll man davon halten, wenn eine Zeitungsredakteurin im Streit erklärt, sie hätte bei dem Wort „gaskammervoll“ keine Assoziationen, weil sie sich nicht mit deutscher Geschichte befaßt? Na bitte, denke ich, endlich ist „Die Gnade der späten Geburt“ auch bei „linken Redakteuren“ hoffähig. Im übrigen scheint sie nicht die einzige zu sein, die sich nicht mit Geschichte (nicht nur deutscher) befaßt, aber trotzdem in der taz schreibt. Das Schlimme ist nur, daß diese Redakteurin, und wahrscheinlich steht sie da nicht allein, dieses „nicht mit Geschichte befassen“ gar nicht als Mangel sieht, sondern als eine Art Errungenschaft, als einen Sieg des Freigeistes über die Spießer, die ständig im Staub irgendwelcher Archive wühlen.

Nebenbei: Kapielski ist doch beileibe nicht der einzige, dem gelegentlich die Metaphern durchgehen, wie man überhaupt der geschätzten taz gelegentlich anmerkt, daß es dort keine Chefredaktion gibt, die eine Art „Endkontrolle“ vornimmt. (...) Eben weil es keinen „Chef“ gibt, der die inhaltliche Linie des Blattes bestimmt, müssen die einzelnen Ressorts besonders zusammenarbeiten, die Frauen- mit der Auslandsredaktion, die Kultur- mit der Aktuellenredaktion usw., denn wenn nicht... dann lesen die geschätzten Redakteure erst bei der morgendlichen Konferenz entsetzt, was irgendwelche Partisanen schon wieder ins Blatt geschmuggelt haben, sind beleidigt, empört, fordern Konsequenzen, wie gehabt.

(...) Es gibt einen Betrieb in der Wattstraße, der hat viele Zimmer, in denen viele Leute herumwuseln. Sie verlassen ihr Revier oft nur zum Essen in der Kantine oder um Tickermeldungen einzusammeln. Diese Art der „Ressorttreue“ hat nur zum Teil was mit Streß und Zeitdruck zu tun, denn was den Umgang mit der taz so schwierig macht, ist folgendes:

Es gibt dort eine Fülle von Seilschaften, Familienclans und Fehden, jede Clique sitzt in ihrem Schrebergarten und hat einen hohen Zaun drumherum, Grenzverletzer werden mißtrauisch beäugt, wenn möglich bestraft. Grenzverletzer, die was können, sind besonders gefährlich: Sie werden von allen Schrebergärtnern, ob nah oder fern, solange beobachtet, bis sie endlich einen Fehler machen, der kurzfristige Bündnisse zwischen ansonsten zumindest entfremdeten Seilschaften stiftet, die sofort wieder zerbrechen, wenn der Bündniszweck, das Verjagen des Frevlers, erreicht ist. Deswegen waren alle großen Konflikte in der taz letztendlich nur Stürme im Wasserglas, weil sie prinzipiell nichts bewegt haben. Besonders erschreckend ist für mich im aktuellen Fall die völlig unangemessene Überreaktion beider Seiten:

-Kapielski fühlt sich wahrscheinlich als Märtyrer, weil er in eine politische Ecke gedrängt wird, in die er nun wirklich nicht paßt, und braucht deshalb nicht über seine, in jeder Hinsicht fehlgegangene Formulierung nachzudenken.

-Die zuständigen RedakteurInnen verteidigen sich gegen vermeintliche Zensur und verschaffen sich so ein allzeit gutes (linkes) Gewissen.

-Die dazugehörige Seilschaft verschenkt, als Solidarität getarnt, eine ganze Seite Berlin-Kultur am Samstag, was die Diskussionsfähigkeit in der taz sicher gefördert hat (...).

-Die Angreifer, die den Skandal erst bemerkten, als sie durch Leserbriefe darauf gestoßen wurden, sind jetzt die Verteidiger der publizistischen Moral, suchen den Minimalkonsens und bestimmen das Niveau, unter das sie sich nie mehr begeben wollen.

Wißt ihr, was Tucholsky auf seinen Grabstein meißeln lassen wollte? „Ihr habt ja alle so recht!“ Das wäre doch auch 'ne hübsche Inschrift für den Grabstein der taz, wenn sie an der jahrelangen Sprachlosigkeit ihrer Mitarbeiter gestorben sein wird, auch wenn sie immer noch erscheint.

Stefan Buchenau, Berlin 19