Pyrotechnik der Seele

■ Gaston Bachelards träumerische Analyse des Kerzenfeuers

Die Zeiten des Kerzenlichts sind vorbei. Viel ist geschehen seitdem. Aber schon bald ist es wieder soweit: Advent, Advent, ein Lichtlein brennt.

Gaston Bachelard, der naturwissenschaftlich geschulte Philosoph, widmet sich in einem 1961 in Frankreich erschienenen und jetzt in deutscher Sprache vorliegenden Buch diesen kleinen Lichtern. Die Flamme einer Kerze gehört zu den Büchern, die aus Träumereien hervorgehen. Es ist eine Art Museumskatalog der inneren Bilder - von solchen Denkbildern und Bildgedanken, die im Licht einer Kerzenflamme entstehen.

Die Flamme einer Kerze betrachtet Bachelard nicht als Objekt der Wahrnehmung, sondern eher als einen Gegenstand einer träumerischen Philosophie bzw. philosophischen Träumerei. Das stille Feuer der Kerzenflamme vertieft und beschützt zugleich die denkerische Einsamkeit des Träumers. In ihrem Lichtkreis wird das Unbedeutende dramatisiert, alles Außenstehende derealisiert.

Die Flamme einer Kerze verbreitet das stille Licht einer träumerischen Aufklärung. Der Blick des Träumers schweift freigelassen durch ein kleines erhelltes Universum. Das nasse und vertiefte Licht der Kerze, in der die Zeit selbst in Bewegung gerät, erzeugt ein Denken, dessen methodisches Ideal darin besteht, keiner Methodologie zu gehorchen. Das Clair obscur der Flamme beleuchtet die Verdunklungen des in seiner Aufgeklärtheit befangenen Geistes. Somit ist Bachelards phänomenologische Bestandsaufnahme des träumerischen Denkens auch ein Beitrag zu einer Dialektik der Aufklärung.

Es gehört zum Wesen einer Flamme, dasjenige, aus dem sie ihr Dasein bezieht, zu vernichten. Die Flamme erzeugt aus gewöhnlicher Materie Licht. In ihr erleidet die Materie den Aufschwung in reines Licht-Sein. Man kann sagen: Die Flamme ist ein Instrument zur Verbesserung des Kosmos. Sein eigenes Wesen zu verbrennen, wie der Schmetterling in der Flamme der Kerze und die Flamme endlich ihr eigenes Dasein, ist der Inhalt der melancholisch träumenden Seele. Das still leuchtende Feuer ist eine Metapher für die letzte in der einsamen Lichthandlung vollzogene Metamorphose des sich dem Geist opfernden Geistes.

Die Flamme ist, ob ungestüm oder nicht, aufgedeckte Animalität. Aber eine solche, die die Transzendenzen erleuchtet. Das Feuer ist, wie Bachelard in seiner bereits 1938 in Frankreich erschienenen „Psychoanalyse des Feuers“ schreibt, in allen seinen Gestalten eine poetisierende Substanz: Feuervögel steigen auf, um das Leben zu überhöhen! Das Feuer entflammt den Geist, der sich wie es selbst verzehrt: Allein der neue Trieb erwacht, ich eile fort, ihr ew'ges Licht zu trinken, deklamiert Faust. Das Feuer der Eingebung fasziniert den entflammten Geist zur zwecklosen Begierde nach unmittelbar erlebter Erkenntnis, die das träumerische Denken hervortreten läßt.

Und im Kerzenschein erscheinen die kleinen Wunder der Imagination. Ein mikrologisches Denken entzündet sich an den vertrauten Gegenständen in seinem kleinen, von der Flamme erleuchteten inneren Museum zu seinen kosmologischen Analogien, die einen beschaulichen und schönen Sinn des Universums offenbaren. Solches Denken verbleibt in der trauten Heimlichkeit seines von der Flamme erhellten Traums und erlebt ein Drinnen im Sein in seinem Sein im Drinnen.

Mit dem Programm des träumerischen Denkens öffnet Bachelard einen dritten Raum, der neben den „realistischen“ Bildern des Wachbewußtseins und den rationalen Gebilden der Theorie steht. Bachelards Denken bewegt sich zwischen den Polen einer Analyse wissenschaftlicher Rationalität und eines sozusagen unter der realistischen Einstellung tauchenden poetisierendes Bewußtseins. Aber beiden Geistestätigkeiten ist eines gemeinsam: Beide derealisieren die Vorstellungen des Realismus. Bachelard beschreibt in der Philosophie des Nein die realistische Dingwahrnehmung als epistemologisches Haupthindernis, zur Rationalität der Naturgesetze vorzudringen. Dem klassischen Rationalismus (Newtonsche Mechanik) folgt der vollständige Rationalismus (Einsteinsche Relativität) und der dialektische Rationalismus der Quantenphysik. Seine Beschreibung deckt sich in vielem mit den Auffassungen Kuhns vom Fortschreiten der Wissenschaften. Paul Feyerabends Denkstile scheinen geradezu eine Paraphrase von Bachelards Konzept der regionalen Rationalitäten zu sein.

Am theoretischen Rand heutiger Wissenschaften werden wieder die Kerzen angezündet. Der dialektische Rationalismus, der sich gelegentlich durchaus des Absurden bedient, um ein Phänomen, das er durch seine surrationalistischen Deduktionen gefunden hat, zu erklären (etwa den Begriff der negativen Masse), trifft sich mit seiner radikal antirealistischen Methode mit dem Kerzenträumer.

Bachelards Öffnung des Denkens ist gegen jeden voreiligen dogmatischen Realismus gerichtet, der es verhindert, das Sein der Dinge in ihrer eigentlichen Andersartigkeit zu erkennen. So ist eine Wand zwar eine Wand, an der man sich durchaus den Kopf einrennen kann, aber bereits auf der Ebene der klassischen Atomphysik zeigt sich dieses Nichts, aus dem eine Wand nun mal im Wesentlichen besteht. Denn der Abstand eines Elektrons zum Atomkern entspricht im Verhältnis etwa der Entfernung Erde-Sonne, und dazwischen herrschen nur „Kräfte“. Mit der Deskription der Entwirklichung gilt Bachelard zu Recht als Wegbereiter der neueren französischen Philosophie. Bachelards Plädoyer für Feuer und Flamme ist allen bereits in Liebe Entbrannten, träumenden Biedermännern und Verfechtern von Licht- und Weihnachtsfesten genauso anzuempfehlen wie Brandstiftern und Feuerteufeln, die vom noch flüssigen Feuerkern der Schöpfung hören möchten.

Ulrich Ebermann

Gaston Bachelard, Die Flamme einer Kerze, Hanser Verlag, München August 1988. 120 Seiten, 24 Mark