Aufarbeitung: "Die Reichskristallnacht"

(„Die Reichskristallnacht“, ARD, 9.11., 20.15 Uhr) Wer an diesem Tag noch aufnahmebereit war, konnte einiges mitnehmen, zum Beispiel die Souveränität der „Zeitzeugen“, die damals Verantwortliche waren. Reinhard Spitzy, ein feiner alter Herr, Sekretär von Ribbentrop: „Niemand wagte einzugreifen, denn die Sphinx auf dem Obersalzberg rührte sich nicht.“ Allerdings habe man gewußt, daß man durch Radikalität bei Adolf Hitler niemals Mißfallen erregte. Also war die Sphinx immerhin soweit verständlich, daß man besser nicht eingreift. Oder der Staatsekretär im Auswärtigen Amt, Hans Otto Meißner, der wahrgenommen haben will, daß der Antisemitismus zwischen 1933 und 1938 nur „unterschwellig“ zu spüren war. Später zeigte der Fernsehfilm Ausschnitte aus dem Film der Der Ewige Jude, „Gestaltung: Dr. Hippler“: wimmelnde Ratten, wimmelnde Juden. Den Film „mußte ich (lange Pause) praktisch in Kauf nehmen“, rechtfertigte sich der Gestalter. Unvergangene Selbstentlastungstechniken, ein Thema an diesem Tage.

Diese Filme, diese Ästhetik sagte mehr aus über die Triebkräfte der „Reichkristallnacht“ als tausend Dokumente.

Oder: die Stimmen der Überlebenden. Ein Dr. Horn erzählt, wie vor seinen Augen die Besitzerin des Milchladens fast zu Tode geprügelt wurde, bei Anwesenheit ihrer Kinder. Er erzählt, wie sie nach dem 9.November alle Lederjacken in den konkurrierenden „arischen“ Ledergeschäften wiederfanden, die seine Mutter fürs Weihnachtsgeschäft eingekauft hatte. Einzelheiten, die hängen bleiben.

An diesem Film stimmte fast alles. Er war auch auf dem neuesten Stand der Forschung - Döscher selbst gab die Imprimatur. Die Vergangenheit wurde ausgeleuchtet, die Gegenwartsbezüge wurden hergestellt. Es stimmte einfach zu vieles. Vielleicht ist es diese Ästhetik, diese ausgewogene Drittelmischung aus Dokumenten, „Zeitzeugen„stimmen und Moderation, die sofort die Message vermittelt, daß jetzt obligatorisches Wissen kommt, daß jetzt Einsichten, die nicht abzulehnen sind, angeboten werden. Es war ein abgesicherter Film, und man spürte - wie überall - die Sorge, an diesem Jahrestag bloß nicht in eines der vielen Fettnäpfchen zu treten. Wohlverstanden: Es geht hier nicht um die Frage, ob der Film betroffen machte. Betroffenheit finde ich unwichtig. Wichtig ist vielmehr, ob wenigstens die Neugier gefördert wird, Geschichte zu erkennen. Und die Neugier lebt von Einzelheiten. Die ausgewogene Ästhetik tippte zu viel zu kurz an, bettete zu schnell die Schocks der kleinen Informationen in den moderierten Zusammenhang.

Man hätte sich einen Film denken können, der eineinhalb Stunden nur die Nazi-Ästhetik dieses Tages bringt, oder: nur die Rechtfertigungssuada der feinen alten Herren; oder: nur die Stimmen und die Einzelheiten der Verfolgten. Dennoch war es eine gute und verteidigenswerte Arbeit, brauchbar wohl auch für Schulen. Wichtig, und für die Zuschauer zu dieser prominenten Sendezeit sicherlich neu war die Betonung auf die Arisierung. Es wurde gezeigt, wie sich die „Reichskristallnacht“ für die Deutschen gelohnt hat - im buchstäblichen, bilanztechnischen Sinne. Und für ein Detail bin ich besonders dankbar: Der feine alte Herr Spitzy beschrieb, wie an jenem Tage plötzlich „Aschenreste“ vom Fenster her auf die polierte Kommode flogen. Aschenreste, die nahm das irritierte Bildungsbürgertum wahr, etwas also, was man am besten wegwischt. Wer kann ihnen denn vorwerfen, daß sie vom Wind aus der unmittelbaren Zukunft hereingetrieben wurden. Und so wischen sie noch heute.

KH