TYPISCH DEUTSCH!

■ Die Nachkriegsgeneration in den Niederlanden kultiviert den Deutschenhaß

Die liebevoll und mit pedantischer Sorgfalt errichteten (Sand-)Mauern am Strand von Terschelling deuten es von weitem an: Hier wird die jährlich verordnete Familienidylle zelebriert, und was ein aufrechter Teutone ist, ziert sich nicht, sein Kunstwerk mit den nationalen Attributen auszustatten, es gegebenenfalls gegen autochthone Usurpatoren zu verteidigen; schließlich deutet das schwarz -rot-goldene Symbol geltende Besitzrechte an - zumindest für zwei Wochen. Wie eine Staatsgrenze kommen manchem Einheimischen solche aus wüstem Betätigungsdrang entstandenen Bodenumwälzungen vor; spürbar die Nötigung, ob dieser kunstvollen Demarkationslinie den Ausweis zu zücken.

Angesichts einer sich solcherart verbarrikadierenden Flut von Sonnenanbetern aus dem Nachbarland bleibt den ebenfalls erholungssuchenden Niederländern nur noch der Gang in die Fluten. Haben jene sonst bekanntermaßen ein eher gutes Verhältnis zum Wasser, erscheint es offenbar als Sakrileg, den über Jahrhunderte dem Meer mühevoll abgerungenen Boden dem östlichen Nachbarn zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert kampflos preiszugeben. Der Betreiber des Zeitungskiosks von West-Terschelling nimmt es eher gelassen hin: „1940 kamen sie mitten in der Nacht, in unzähliger Menge, über die Grenze, mit Panzern und Kanonen; heute bringt sie die erste Fähre um 10 Uhr 30, und wir wissen genau, wieviele pro Fracht - das ist doch schon ein Fortschritt!“

Das Hafencafe ist gut besucht um die Mittagsstunde. Es ist heute kein Strandwetter; viele Gäste haben sich nach einem längeren Spaziergang durch die Dünen zu einer heißen Schokolade eingefunden. Am Tresen erzählt ein Fischer Witze, und er ist sich trotz (oder gerade wegen?) seiner fünf Jenever deren provokativen Charakters bewußt - sein Publikum ist mehrheitlich deutsch: „Wie öffnet ein Deutscher eine Auster?“ Er grinst sein Auditorium herausfordernd an und ergänzt: „Er legt sie auf den Boden und brüllt: AUFMACHEN!!“ Die hilflos anmutende Bitte des Ehepaares aus Hamburg, doch bitte nicht gleich alle Deutschen mit den Nazis in einen Topf zu werfen, wird mit einem „wohl auch 'nen Schwiegervater im Widerstand gehabt, was?“ quittiert. Der Wirt, der der Unterhaltung bis dahin interessiert zugehört hat, bringt die Ressentiments auf den Punkt: „Ob Streit um korrupte Politiker, um die Begnadigung ehemaliger 'Terroristen‘ oder um Mord oder Selbstmord führender Politiker: Die Deutschen sind sich uneinig, ein beruhigender Gedanke für uns, die wir uns erinnern...“

Die Greuel der nationalsozialistischen Besatzung (1940-45) sind nicht nur dem überlebenden jüdischen Bevölkerungsteil in den Niederlanden in böser Erinnerung geblieben. Als sich viele Niederländer empört gegen die Deportation jüdischer Mitbürger auflehnten, richtete sich die Repression seitens der militärischen Machthaber sofort darauf auch gegen sie, indem sie Arbeitslose und später Erwerbstätige für die Arbeit in der deutschen Rüstungsindustrie ins Reich verschleppten, 270.000 an der Zahl. Mehr jedoch als die Dienstverpflichtungen zum „Arbeitseinsatz“ hat sich der „Hungerwinter“ 1944/45 fest ins Gedächtnis eingegraben. Als die Alliierten den Durchbruch in den Norden im September 1944 nicht schafften, begannen die deutschen Streitkräfte, die Infrastruktur systematisch zu demontieren. Sämtliche privaten und öffentlichen Verkehrsmittel wurden beschlagnahmt, ganze Regionen wurden unter Wasser gesetzt. Neben einer akuten Versorgungsnot erlitt die Zivilbevölkerung den strengsten Winter seit Jahren. 15.000 Menschen starben in den letzten Kriegsmonaten.

Spannungsfrei ist das Verhältnis zwischen beiden Völkern auch ein halbes Jahrhundert nach der allzu heftigen Umarmung durch das „arische Brudervolk“ nicht. Vorurteile gründen sich jedoch nicht nur auf die Erfahrung mit der NS -Besatzungsmacht. Seit gut 25 Jahren bevölkern Jahr für Jahr Millionen von devisenbringenden bundesdeutschen Urlaubern ab Frühlingsanfang die touristischen Zentren des Landes und versäumen kaum eine Gelegenheit, in ebensoviele bereitgestellte Fettnäpfe zu treten. Der Wiederaufbau der Bundesrepublik und das „Wirtschaftswunder“ fanden ihre Entsprechung im Freizeitkolonialismus an Hollands Küsten: Kaum hatte Vati den Strandkorb am dafür auserwählten Platz stationiert, dirigierte er seine Familienschar, den längsten, größten und tiefsten Graben um selbiges Erholungsmöbel auszuheben - sollte er doch den „Lebensraum“ für die wichtigsten Wochen des Jahres vor allzu aufdringlichen Einheimischen schützen.

Wie überall an der Küste ist auf Terschelling in dieser Saison die gerade beendete Fußball-EM '88 beherrschendes Thema. Durch den Sieg gegen „Duitsland“, bezeichnenderweise nicht den gegen die Sowjetunion im Endspiel, fühlten sich sogar für einen kurzen Moment die Einwohner der Provinzen Limburg und Brabant als „Holländer“. „Die Schmach ist endlich wettgemacht“, so der Wirt, „die Schmach durch die Nazi-Besatzung und dann 1974 durch Hölzenbein.“ Der „häßliche Deutsche“

Das Bild vom „häßlichen Deutschen“ haftet, hat sich gar neu belebt. Auch das wiederum hängt nicht nur mit der schmerzlichen Erfahrung der Besatzungszeit zusammen; es gibt Einiges, das den Niederländern an den Deutschen nicht gefällt: Sie sind laut, unsensibel, haben keinen Humor, sind meist zu dick, fahren zu schnell Auto, schütteln sich bei jeder Gelegenheit die Hände und haben eine aufdringliche Sprache: Ein „Herr Ober, ich bekomme noch ein Bier“ wird nicht selten mit einem „Zu Befehl, Herr Obersturmbannführer“ honoriert. Als typisch deutsch gelten Fleiß, Gründlichkeit, Berufsverbote, Radikalenerlaß und RAF: „Wäre bei uns nicht möglich“, so der Deutschlehrer am Nebentisch.

Es gibt Vorurteile, die aus einem eigenen Minderwertigkeitsgefühl rühren. Eine genuin nationale niederländische Identität läßt sich historisch kaum einwandfrei nachweisen. Nicht nur haben Nicht-Europäer oft Schwierigkeiten, die beiden Völker bzw. ihre Kulturen auseinanderzuhalten. Auch die Niederländer selbst schaffen es nur mit Mühe, sich abzugrenzen von dem Volk, dem sie am meisten ähnneln, auch in der „Gründlichkeit“. Das Merkwürdige an dieser Germanophobie ist, daß sie bei vielen nicht auf negative persönliche Erfahrungen gründet, sondern lediglich „ererbt“ wurde. Uns Schülern wurde bis in die sechziger Jahre permanent beigebracht, wie sehr diese Barbaren unsere Eltern geknechtet hatten in den fünf Jahren ihrer Herrschaft.

Statt Zurückhaltung zu üben oder gar zu sühnen, rappelten sich die Nachbarn bemerkenswert flott aus ihren Ruinen wieder empor und überschritten allmählich und in immer größeren Zahlen in immer größeren Autos die Grenze, nur um die Küstenlinie erneut zu besetzen - durch das Buddeln territorialer Löcher am Strand nicht nur Terschellings.

Die Sonne hat sich an diesem Tag auf Terschelling doch noch mal gezeigt, wenn auch erst kurz vor der Dämmerung. Die meisten Gäste haben sich in ihre Ferienbungalows und Wohnmobile zurückgezogen: Zeit zum Abendessen. Thema im Cafe - der glasklare friesische „Berenburger„-Jenever hat mittlerweile das obligatorische „kopje koffie“ abgelöst ist immer noch die Unterhaltung vom Nachmittag: „Die Mauer hat schon was für sich“, bringt einer das Symbol europäischer Nachkriegsgeschichte auf den Punkt: „Also, keiner von uns, der sich mit Entspannungspolitik und Frieden beschäftigt, wird Sinn oder Unsinn der Berliner Mauer ernsthaft thematisieren.“ Bei allem Verständnis für die individuellen Tragödien, die diese Demarkationslinie für die Menschen auf beiden Seiten gebracht hat, scheinen Niederländer, Belgier, Franzosen und Engländer behutsam in dieser Frage und hört man nicht selten: „Wir sind insgeheim froh, daß Mitteleuropa zwei deutsche Staaten kennt: Deutsche Männer bilden immer eine Mannschaft...“

Henk Raijer