„Unabhängigkeit hat psychologische Bedeutung“

Die allseits erwartete Ausrufung eines eigenen Staates durch den palästinensischen Nationalkongreß wird den Alltag in den besetzten Gebieten nicht sofort ändern /Mögliche Rechtsregierung in Tel Aviv baut interne palästinensische Differenzen ab  ■  Aus Jerusalem Beate Seel

Mit Straßenfesten und Demonstrationen wollen die Bewohner der israelisch besetzten Gebiete den Tag würdigen, an dem der Palästinensische Nationalrat (PNC), der an diesem Wochenende in Algier zusammentritt, die Unabhängigkeit der Westbank und des Gaza-Streifens ausruft.

Die Gegenseite bereitet sich auf ihre Weise auf das erwartete historische Ereignis vor. Mit täglichen Haus-zu -Haus-Durchsuchungen und Dutzenden von Festnahmen will die Besatzungsmacht jede besondere Aktivität im Keim ersticken. Seit gestern sind die besetzten Gebiete abgeriegelt, die Flüchtlinge in den Lagern haben Ausgangssperre. Wer am Donnerstag durch die Westbank fuhr, konnte bereits eine deutliche Erhöhung der militärischen Präsenz Israels ausmachen. Verteidigungsminister Jitzhak Rabin gab schon im Vorfeld der Sitzung des PNC, des höchsten Entscheidungsgremiums der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die Leitlinie seiner Regierung bekannt: „Unsere Intention ist es, deutlich zu machen, daß die Resolutionen aus Algier bedeutungslos sind.“ Dies mag Rabin zwar aus Gründen der politischen Propaganda beteuern, allein die Palästinenser in der Westbank und dem Gaza -Streifen setzen große Erwartungen in die wiederholt verschobene Sitzung des PNC.

Nicht, daß die Ausrufung der Unabhängigkeit in der Westbank und dem Gaza-Streifen von einem Tag auf den anderen zur großen Wende führen würde. Hier hat sich der Alltag längst dem Rhythmus der Streiks und der Generalstreiks, täglichen kleinen Demonstrationen und Konfrontationen mit den Soldaten der Besatzungsmacht unterworfen. Daran wird auch eine in Algier verabschiedete Resolution zunächst nichts ändern. Aber: „Die Bedeutung der Unabhängigkeitserklärung liegt eher im politisch-psychologischen Bereich. Eine Unabhängigkeitserklärung würde aller Welt deutlich machen, was wir wollen: Ein Ende der israelischen Besatzung und einen eigenen Staat“, erklärt ein palästinensischer Lehrer aus der Westbank und faßt damit eine weit verbreitetete Auffassung zusammen. „Es ist die Sache des Nationalrats, eine klare politische Aussage zu formulieren. Das wird die Leute hier ermutigen, ihren eingeschlagenen Weg, die Intifada, fortzusetzen, bis das Ziel erreicht ist.“

Eher gemäßigt eingestellte Palästinenser würden es begrüßen, wenn die Unabhängigkeitserklärung, die auf der Teilungsresolution der UNO aus dem Jahre 1947 basiert, mit einer Anerkennung der umstrittenen Entschließungen 242 und 338 gekoppelt wird. Diese beiden Texte garantieren allen Staaten der Region, also auch Israel, eine sichere Existenz, sprechen aber vom Palästinenserproblem nur als „Flüchtlingsfrage“. „Mein Wunsch wäre es, daß der PNC beide Schritte gleichzeitig beschließt“, erklärte ein Dozent der palästinensischen Bir-Zeit-Universität. „Damit hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Unsere eigenen Ziele zu verdeutlichen und gleichzeitig all denen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die immer noch denken, wir wollten die Juden ins Meer treiben. Außerdem würde die PLO dadurch international als Gesprächspartner für Verhandlungen akzeptierbar werden.“

Der Vorschlag, UNO-Beobachter in die besetzten Gebiete zu entsenden, stößt ebenfalls auf breite Zustimmung. Damit verbunden ist die Hoffnung auf einen israelischen Teilrückzug aus besonders dicht besiedelten Regionen. Dieser Vorschlag war bereits in einem im Januar veröffentlichten Forderungskatalog der Führung der Intifada als ein möglicher Zwischenschritt zu einer entgültigen politischen Lösung des Konflikts enthalten.

Während in der Frage der Ausrufung eines Staates allgemeine Einigkeit herrscht, scheiden sich die Geister daran, ob der PNC gleichzeitig eine provisorische oder Exilregierung einsetzen sollte. Manche fürchten, ein solcher Schritt könne leicht verpuffen, wenn er nicht die offizielle Anerkennung anderer Regierungen nach sich zieht. Andere sorgen sich um ihre Reisemöglichkeiten, wenn sie erst mal im Besitz eines PLO-Passes sind. Murad, der in seinem Ort in der Westbank in den Volkskomitees aktiv ist, sieht die Sache anders. „Was ist schon ein Staat ohne Regierung“, meint er lapidar. Er befürwortet die sofortige Ernennung einer provisorischen Regierung, die zur Hälfte aus Palästinensern aus den besetzten Gebieten bestehen soll, deren Namen zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben werden sollen. Die Bildung einer Exilregierung lehnt er ab. „Wer weiß, wie lange die dann im Amt bleibt“, sagt er. Aus seinen Worten spricht das im Zuge der Intifada, des „wichtigsten Kapitels der PLO“, erworbene neue Selbstbewußtsein gegenüber der eigenen Führung im Ausland. „Eine provisorische Regierung würde abtreten, sobald hier Wahlen möglich sind. Wir in den besetzten Gebieten hatten noch nie eine Chance, irgend etwas zu entscheiden.“

Mit der Aussicht auf eine Rechtsregierung in Israel sind die Differenzen zwischen den palästinensischen Fraktionen wieder geringer geworden. Speziell die linken Organisationen hatten das Treffen zwischen Arafat, König Hussein und dem ägyptischen Staatschef Mubarak in Akaba sowie die Hoffnung der PLO-Führung auf einen Wahlsieg der Arbeiterpartei kritisiert. Aber auch die in Ostjerusalem erscheinende Zeitung 'Al Fajr‘, die Arafat nahesteht, schrieb diese Woche in einem Kommentar, es sei zu erwarten, daß die palästinensische Einheit in dem Maße gestärkt werde, wie sich Träume und falsche Hoffnungen hinsichtlich einer Kompromißbereitschaft Israels in Luft aufgelöst haben. „Daher wird vom PNC erwartet, daß er eine Strategie annimmt, die die Initiative ergreift und eine palästinensische Politik formuliert, anstatt eine lediglich reaktive Politik zu betreiben, die darauf basiert, was in anderen Regierungen geschieht.“