Die Verarbeitung der Vergangenheit hat emotional nicht stattgefunden

■ Paul Parin, Psychoanalytiker in Zürich, bekannt durch seine Arbeiten über gesellschaftliche Abwehrmechanismen, über die unbewußten Fehlleistungen von Ex-Bundestagspräsident Philipp Jenninger in seiner Rede zum 9.November

I N T E R V I E W

taz: Wie interpretieren Sie aus psychoanalytischer Sicht den Auftritt Jenningers im Bundestag?

Paul Parin: Als Analytiker konnte ich mich über diesen Fehlgriff bei der Rede im Bundestag nicht wundern. Es ist eine geradezu typische Fehlleistung, wie sie Sigmund Freud erklärt hat und die auch zu erwarten war. Genau definiert hat das meines Erachtens Lambsdorff, der dazu meinte, wenn auch ungewollt, klang die Rede wie eine Rechtfertigung Hitlers. In der Tat.

Kann die Rede als Versuch gewertet werden, sich in die damalige Zeit einzufühlen, sie zu verstehen, um sie überhaupt aufarbeiten zu können?

Die bewußte politische Absicht war sicherlich anders als ihre tatsächliche Wirkung. Eine Fehlleistung wird ja gerade dadurch charakterisiert, daß eine bewußt gewollte Absicht ein anderes Denken unterdrückt hat. Und unter bestimmten Umständen kommt das vom Bewußtsein Abgedrängte zum Vorschein. Nehmen wir an, der Gedenktag hat ihn irgendwie erschüttert, er wollte den Blick zurückrichten, um eine gute Rede zu halten. Die Fehlleistung besteht einfach darin, daß sonst Abgedrängtes zum Vorschein gekommen ist. Ich kenne Jenninger nicht persönlich. Aber es ist doch so, daß bei vielen Deutschen eine konservative oder auch bloß bürgerliche Ideologie die Ideale, Stereotypen oder auch bloß Vorurteile der Hitler-Zeit nie wirklich aufgegeben, sondern bloß modifiziert hat. Horst Eberhard Richter hat das so ausgedrückt: Als 1945 die Deutschen aus dem Schock der Niederlage erwachten, hatten sie ihr Ideal nicht verloren, es war wieder da, nur sprach es jetzt englisch. Ich glaube, daß man Herrn Jenninger, wie vielen seiner Partei, auch seinem Kanzler, zuschreiben darf, daß eine Modifikation dieser Bewunderung eines Leistungsdenkens, auch bestimmter Feindprojektionen früher auf die Juden, jetzt mehr auf die Kommunisten, die Linken vorhanden sind. Analoge Fehlleistungen hat sich ja bereits Kanzler Kohl erlaubt. Das ist ihnen halt passiert, die wollten das nicht. Das sind Dinge, die dem vorbewußten Denken angehören. Natürlich kann man annehmen, daß Jenninger eine ehrliche Rede halten wollte. Natürlich ist eine Fehlleistung insofern ehrlicher, weil der bewußte Wille, das was man sagen will, irgendwie aus der Kontrolle gerät und das, was man sonst denkt, was vorbewußt vorhanden ist, sich vordrängt.

Kann es sein, daß Jenninger sich einfach 40 Jahre gar nicht wirklich mit der Nazi-Zeit beschäftigt hat und jetzt eine große Rede zu dem November-Pogrom halten wollte und logisch scheitern mußte?

So streng logisch geht Psyche nicht vor. Freud hat in einem etwas anderen Zusammenhang das einmal sehr treffend formuliert: Wenn man solche Leute fragt, ob sie das gewußt haben, was damals passiert ist, würden sie zur Antwort geben: ich habe es immer gewußt, aber nie daran gedacht. Es ist sicher, daß Jenninger sich vielfach interessiert und informiert hat. Die Kritik und berechtigte Abneigung gegen die abstoßenden Seiten dieses Regimes kann ja an seiner Generation gar nicht vorbeigegangen sein, aber sie ist nie verknüpft worden mit dem jetzt und hier geübten Handeln und Denken. Das Problem ist nicht, daß er kein Wissen oder keine Erinnerung gehabt hätte, aber das Wissen ist nicht verarbeitet worden mit dem, was einen Menschen bewegt.

Die Verarbeitung der Vergangenheit hat bei vielen Deutschen intellektuell zwar stattgefunden, emotional aber nicht. Kürzlich habe ich eine sehr gute Reportage gesehen. Da wurde ein gehobener Funktionär von Goebbels, vom Reichspropagandaministerium also befragt. Der hat sich intellektuell völlig distanziert von den Greueltaten, die in der Hitler-Zeit passiert sind, aber er spricht so, als ob er nie diesen grauenhaften antisemitischen Propagandafilm gemacht hätte, der unter seinem Namen seinerzeit erschienen ist und in Ausschnitten in der Sendung gezeigt wurde. Dieser Mann ist bewußt völlig ehrlich, wenn er sagt, er hat in der Pogromnacht 1938 zugunsten einer jüdischen Familie interveniert. Ich glaube ihm das und ich glaube ihm auch, daß er seine Intervention heute noch richtig findet. Eine Verarbeitung müßte doch aber beinhalten, daß er darüber redet, selbst an maßgeblicher Stelle propagandistisch mitgemacht zu haben: immer gewußt und nicht daran gedacht, das ist das Problem. So gesehen sind solche Fehlleistungen in gewissem Sinne ehrlicher als das, was der bewußte politische Wille diktiert zu sagen und was den Erfordernissen des Tages und einer formulierten Politik entspricht.

Bei uns gibt es derzeit eine heftige innerredaktionelle Diskussion. In einem Beitrag über eine Disko hieß es zum Beispiel, schon um acht Uhr sei sie „gaskammervoll“. Wie interpretieren Sie solche Äußerungen von Leuten, die Nachgeborene sind?

Das ist eine fehlgehende politische Ironie und Satire. Als sich im Jahre '68 zum Protest gegen den Vietnamkrieg junge Leute die amerikanische Flagge auf das Hinterteil ihrer Hose genäht haben, da war klar, sie wollte gegen den Vietnamkrieg protestieren. Andere trugen die Fahne vorne am Motorrad. Da war man sich schon nicht mehr sicher, ob sie für oder gegen den Vietnamkrieg sind. Das frappierendste Beispiel ist der Rosa Winkel der Homosexuellen, den die politisch bewußten Homosexuellen als Symbol für ihre Bewegung gewählt haben. Das war das Zeichen, das Nazis in deutschen Konzentrationslagern erfunden hatten, um homosexuelle Häftlinge, die zur Vernichtung bestimmt waren, zu kennzeichnen. Die Absicht ist böse Ironie, aber die ist unangebracht und völlig mißverständlich. Es kommt noch etwas hinzu. Bei neueren antisemitischen Äußerungen von Nachgeborenen ist es vielleicht so, daß in Deutschland, wo zum Beispiel derart reaktionäre Ideologen wie der Springer -Konzern mit seinem Philosemitismus es besonders leicht auch für später geborene Intellektuelle möglich gemacht hat, nicht an die Realität des Antisemitismus in Deutschland zu denken und sich zu sagen, man kann ruhig einmal antisemitisch sein, wenn die Reaktionäre so philosemitisch sind.

Interview: Max Thomas Mehr