Jenninger zieht Konsequenzen

Der Bundestagspräsident ist zurückgetreten / Nach kritischen Reaktionen auf seine Bundestagsrede zum 50.Jahrestag der Novemberpogrome fühlt sich Jenninger falsch verstanden / Nachfolge noch ungeklärt / Kohls USA-Reise möglicher Grund für Rücktritt  ■ Aus Bonn Oliver Tolmein

Bundestagspräsident Philipp Jenninger ist gestern vormittag zurückgetreten. In einer persönlichen Erklärung vor der CDU/CSU-Fraktion begründete er das damit, daß seine Bundestagsrede zum 50.Jahrestag der Judenpogrome in Deutschland „von vielen Zuhörern nicht so verstanden worden ist, wie ich sie gemeint hatte“ und daher „viele Kolleginnen und Kollegen mir das für meine Amtsführung notwendige Vertrauen nicht mehr entgegenbringen“. Eine Einigung über seinen Nachfolger erfolgt voraussichtlich erst Ende nächster Woche. Als Kandidaten waren gestern zunächst der amtierende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger und der frühere Minister für innerdeutsche Beziehungen, Heinrich Windelen, im Gespräch.

Während SPD, FDP und CDU/CSU in ihren Stellungnahmen die „persönliche Integrität“ Philipp Jenningers betonten und sich, wenn überhaupt, nur mit vorsichtigen Formulierungen von Jenningers Gedenkrede absetzten, sprachen die Grünen gestern auch weiterhin von einer „beschämenden Rede“ und forderten Konsequenzen über den Rücktritt hinaus. Sie verlangen eine Debatte darüber, „wie der Bundestag seit seinem Bestehen mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit umgeht“.

In der Erklärung des SPD-Vorsitzenden Vogel heißt es lediglich, daß „in einem Zusammenhang, der an das gedankliche und sprachliche Einfühlungsvermögen und die Sorgfalt der Darstellung besondere Anforderungen stellte, (Jenninger) diesen Anforderungen nicht gerecht geworden ist“. Der Vorgang zeige „wie sehr das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte auch heute noch gegenwärtig ist“.

Für die CDU/CSU bat Theo Waigel, der den erkrankten Alfred Dregger vertrat, Jenninger dringend, „auch im Namen von führenden Repräsentanten von SPD und FDP“, das Bundestagsmandat zu behalten: „Philipp Jenninger soll in dieser Stunde wissen, daß wir jetzt und auch künftig zu ihm stehen. Und das soll und darf keine Floskel bleiben. Wir vergessen nicht, Philipp, was Du für diese Fraktion, für das Parlament und den Staat an herausragender Stelle eindrucksvoll geleistet hast.“

Diese weitgehende Einmütigkeit von SPD, FDP und CDU/CSU hatte sich bereits am Donnerstag abend abgezeichnet. Besonders kraß kam sie bei den Reaktionen auf die persönliche Erklärung Jutta Oesterle-Schwerins (Grüne) zum Ausdruck, die nach zahlreichen Zwischenrufen aus den Reihen der CDU/CSU von der Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger (SPD) abgebrochen wurde. Jutta Oesterle-Schwerins Rede, die einen Zusammenhang zwischen der Weigerung des Bundestags, überlebenden NS-Opfern angemessene Entschädigungen zu zahlen, und der Rede Jenningers herstellte, „die Hitler zu einem großen Politiker (machte)“, wurde von CDU/CSU-Abgeordneten als „Unverschämtheit“ und von Annemarie Renger als „Verbalinjurie“ und „Beleidigung dieses Hauses“ bezeichnet.

Der Versuch, in Bezug auf das Ansehen des Bundestages Schadensbegrenzung zu betreiben und gleichzeitig die Grünen auszugrenzen, dominierte auch die weiteren Verhandlungsetappen auf dem Weg zu Jenningers Rücktritt. Als sich um 19 Uhr Donnerstag abend die Fraktionsvorsitzenden auf Einladung des CSU-Vorsitzenden Waigel trafen, waren die Grünen nicht eingeladen. Waigel begründete das damit, daß die Grünen „nicht abstimmungsfähig“ seien. Die SPD protestierte zwar verbal, trat aber gleichwohl zu dem Termin an und rechtfertigte das damit, daß es Waigels Recht sei, zu einem „privaten Treffen“ einzuladen, wenn er wolle. Die für 20 Uhr angesetzte Ältestenratssitzung, bei der auch die Grünen vertreten gewesen wären, wurde kurzfristig abgesetzt.

Bei der Sitzung, auf der wohl die endgültige Entscheidung für Jenningers Rücktritt gegen 23 Uhr fiel, waren die Parteifreunde Kohl, Waigel, Seiters und Jenninger ohnehin unter sich. Am Freitag früh wurde der Sitzungsmarathon mit der turnusmäßigen Koalitionsrunde, in deren Verlauf die FDP informiert wurde, wie die Würfel gefallen waren, fortgesetzt. Kurz vor zehn Uhr einigten sich dann Waigel als Vertreter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Hans Jochen Vogel für die SPD über das weitere Verfahren: Gegen 11 Uhr wurden die Bundestagsfraktionen von SPD und CDU/CSU kurz über den Rücktritt informiert, und mittags wurde die Entscheidung Jenningers im Bundestag bekanntgegeben.

Daß es überhaupt und so schnell zu dem Rücktritt Jenningers kam, wird in Bonn zum einen auf die bevorstehende USA-Reise von Bundeskanzler Kohl zurückgeführt, zum anderen darauf, daß die Rede Jenningers, die dem Vernehmen nach sehr kurzfristig und von Jenninger selbst nur in Zusammenarbeit mit seinem regulären Redenschreiber verfaßt worden sein soll, auch im rechten Spektrum der Unionsparteien wenig Anklang gefunden hat. Beherrschendes Interesse, dem sich auch die SPD untergeordnet hat, sei daher gewesen, daß die Bundesrepublik international möglichst wenig Schaden nehme.