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Türkischer Knast: „Schlimmer als in Sklavenlagern“

In Istanbul demonstrierten 200 Frauen gegen die furchtbaren Zustände in türkischen Gefängnissen / Seit knapp einem Monat sind über 1.600 politische Gefangene im Hungerstreik / Polizei-Prügel für die Mütter / Fünf Frauen im Krankenhaus  ■  Aus Istanbul Ömer Erzeren

Eisiger Wind fegt über den Sultanahmet-Platz, dem touristischen Zentrum Istanbuls. Die Temperaturen in der Bosporus-Metropole sind erheblich unter die Durchschnittstemperatur für den Monat November gesunken: Drei Grad Celsius. Rund 200 Menschen, zum Großteil alte Frauen, haben sich im Fußgängerbereich auf den Asphalt gesetzt. Mit Zeitungspapier versuchen sie sich vor der Kälte der Straße zu schützen. Ein paar Transparente sind ausgerollt: „Die Menschenwürde wird die Folter besiegen“. Die Familienangehörigen der polititschen Gefangenen machen auf die Situation in den Gefängnissen aufmerksam.

Verzweifelt versucht die 50jährige Sükriye Nazari den Grund der friedlichen Ansammlung klarzumachen: „Jetzt können sie unsere Kinder nicht mehr hinrichten. Jetzt werden sie in den Gefängnissen kaputtgemacht. Durch erschreckende Nachrichten, die aus den Gefängnissen an die Öffentlichkeit dringen, wurden die Mütter der politischen Gefangenen aufgerüttelt. Über 1.600 politische Gefangene befinden sich mittlerweile landesweit im Hungerstreik gegen die menschenverachtenden Bedingungen in den türkischen Gefängnissen. Ein Großteil ist am 28.Tag des Hungerstreiks. Trotz Kontaktsperre gelang es jüngst neun Anwälten eines der Gefängnisse in Nazili zu besuchen. „Der Zustand ist schlimmer als in Sklavenlagern“, konstatierten die Rechtsanwälte. Selbst die Zahnpasta hat man den Häftlingen aus der Hand genommen: Zähneputzen könne zur Ernährung beitragen und den Hungerstreik verlängern. Die den Strafvollzug verschärfende Verordnung des Justizministeriums vom 1.August sei verantworlich für den Hungerstreik, meinen die Rechtsanwalts- und die Ärztekammer Izmir in einer gemeinsamen Erklärung: „die Gefangenen, die unter der Fürsorge des Staates stehen, werden dem Tod ausgeliefert.“

Unter Federführung des Justizministeriums wurde ein Großteil der politischen Gefangenen von Militärgefängissen in zivile Vollzugsanstalten überführt. Mit der Verordnung vom 1. August wurden den Gefangenen die Rechte, über die sie in den Militärgefängissen noch verfügten, wieder abgesprochen. „Rücktritt von Topao“, skandiert die Menge auf dem Sultanahmet-Platz. Topao ist der Name des Justizministers.

Der friedliche Protest der alten Frauen währt eine halbe Stunde. Zwei Hundertschaften Polizei kesseln sie ein. Der Form halber fordert der Einsatzleiter die Auflösung der Ansammlung. „Mein Sohn, wir bleiben noch eine Stunde hier sitzen, dann werden wir von alleine weggehen“, fleht ihn eine bäuerlich gekleidete Frau an. Der friedliche Disput ist auf wenige Minuten beschränkt. Der Einsatzleiter hat entschieden: „Der Staat läßt sich auf keinen Handel ein. Zur Hölle mit diesen alten Weibern. Jagt sie auseinander.“

Ein brutaler Knüppeleinsatz folgt. An den Haaren werden die Frauen, die sich gegenseitig eingehakt haben, weggezerrt: Klagende Schreie, blutübertrömte Gesichter. Unter ständigen Prügeln werden rund 60 Personen in die Busse der Polizei geschafft. Eine junge Frau wirft sich vor den Polizeibus. „Ich lasse meine Mutter nicht alleine weg.“ Auch sie wird im letzten Augenblick in den Bus hineingestoßen. Nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei. Ergebnis: Dutzende Familienangehörige in Untersuchungshaft in den berüchtigten Zellen der politischen Polizei. Fünf Frauen im Krankenhaus.

Der Sultanahmet-Platz gleicht einem verlassenen Schlachtfeld. Ich helfe einer Frau auf die Beine, die gekrümmt am Boden liegt. „Bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr wußte ich nicht, was Polizei und Polizeiwachen bedeuten. Ich habe sie kennengelernt in den letzten acht Jahren, seit mein Sohn im Gefängis sitzt“, sagt sie.

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