„Eine Chance ist vertan!“

■ Der Fall Jenninger und der Fall Jenningers weiter im Gespräch / Galinski: „Ein peinlicher Abgang“ Wiesenthal: „Eine Tragödie“ / Westphal (SPD): „Bedrückendes Ereignis“ / Vollmer: Biedenkopf for President

Berlin (ap/taz) - Die Diskussion über den „Fall F“ Jenninger wurde zu Beginn dieser Woche fortgesetzt. Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, sprach bereits am Sonntag abend in einer Fernsehdiskussion von einem „mehr als peinlichen Abgang“ des CDU-Politikers und warf ihm vor, mit seiner Rede zum 50.Jahrestag der Novemberpogrome eine politische Chance vertan zu haben. Harsch kritisierte er Jenningers Äußerung in einem TV -Interview nach seinem Rücktritt, wonach man in Deutschland „nicht alles beim Namen nennen“ dürfe. Galinski erklärte weiter, daß es ihn sehr viel Überwindung gekostet habe, im Bundestag bis zum Ende der Rede auszuharren und nicht den Saal zu verlassen. Dies sage er nicht als Vorsitzender des Zentralrats sonder „als Mensch, der in Auschwitz war, die ganze Tragödie dort gesehen hat“.

Der Präsident des Deutschen Bundestages habe zu Beginn der Veranstaltung eine Tagesordnung verlesen, „ohne Mitgefühl, ohne jede innere Anteilnahme“. Jenninger sei ein Opfer seiner eigenen Überforderung und Unfähigkeit geworden. „Die ganze Rede war, von einigen Passagen abgesehen, ein Fehlschlag.“

Der Bundestagsvizepräsident Heinz Westphal (SPD), hat sich skeptisch dazu geäußert, ob die Deutschen genug aus der Geschichte gelernt hätten. Auf einer Gedenkveranstaltung im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin ging Westphal in einer Vorbemerkung zu seiner Rede auch kurz auf Jenningers Entgleisungen ein. Für ihn zeige „das bedrückende Ereignis im Bundestag“, auf welchem „verdammt dünnen Eis“ sich alle befänden, wenn es um die Vergangenheit gehe.

Der Leiter des Jüdischen Dokumentationszentrums in Wien, Simon Wiesenthal, der sich zur Zeit in den USA aufhält, bedauerte hingegen den Rücktritt des CDU-Politikers. „Ich kenne den Mann. Es ist eine Tragödie“, meinte er gegenüber Journalisten. Jenninger sei „ein Freund der Juden und ein Freund Israels“. Auch Kanzler Helmut Kohl, der aus Anlaß des bevorstehenden 80.Geburtstags von Wiesenthal in New York sprach, ging auf den Eklat um den Ex-Bundestagspräsidenten ein, ohne sich zur Rede selbst zu äußern. Die politische Integrität Jenningers und die Redlichkeit seiner Absichten seien nach seinem Rücktritt als Bundestagspräsident auch in Israel anerkannt worden, meinte Kohl und fügte hinzu, daß sich dieser immer für die Aussöhnung mit den Juden und für die Lebensinteressen des Staates Israel engagiert habe. Ein Nachfolger des zurückgetretenen Bundestagspräsidenten war am Montag noch nicht in Sicht. Der offenbar von Kohl favorisierte CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger will nicht. Im Gespräch sind auch Bundesbildungsministerin Wilms, Liselotte Berger und Michaela Geiger. Antje Vollmer, Abgeordnete der Grünen, brachte Kurt Biedenkopf ins Gespräch. Es sei zwar nicht Aufgabe der kleinsten Fraktion, sich den Kopf der größten zu zerbrechen. Biedenkopf verfüge aber über Ansehen in allen Fraktionen und der Öffentlichkeit.

mtm