Im Kopf das Bild des „Conducators“

Als Kind nahmen mich meine Eltern am 1.Mai oder am 23.August, dem Nationalfeiertag Rumäniens, immer zu den sogenannten Demonstrationen mit, wo sie vor Beginn auf der Liste eines Betriebsfunktionärs ihre Anwesenheit eintragen mußten. Von der Sammelstelle ging man „in Reih und Glied“ fähnchenschwenkend durch die Stadt, vorbei an den Vertretern des Kreisparteikomitees (wir waren eben in Temeswar, nicht in Bukarest) und an den großen Bildern von Marx, Engels, Lenin. Dann tauchte immer häufiger das Bild von Ceausescu auf. Es wuchs und wuchs, nahm bald die ganze Vorderfront des Nationaltheaters ein, die Bilder von Marx, Engels, Lenin schrumpften, bis sie endgültig verschwunden waren.

Ceausescus Bild rückte immer näher. Bald hing es auch in den Klassenräumen der Schulen zwischen dem Parteisymbol und dem Wappen Rumäniens. Ich weiß nicht, weshalb ich als 13jähriger nach Unterrichtsschluß einmal das Bild von der Wand nahm und unter das Katheder legte. Dabei hatte die Aufräumerin mich beobachtet. Der Nachsicht meiner Klassenlehrerin habe ich es zu verdanken, daß dieser Streich damals kein Nachspiel hatte. Auf jeden Fall bekam ich es mit der Angst zu tun. Wegen des Bildes.

Und unaufhörlich wuchsen Anzahl und Größe der Bilder von Ceausescu. Immer häufiger wurde sein Name genannt, im Fernsehen gleich öfter in einem Satz. Und immer hohler klang er.

Als ich Student war, wurden sämtliche Ceausescu-Bilder in sämtlichen Institutionen des Landes ausgetauscht: Es wurden Bilder gebracht, auf denen beide Ohren des Präsidenten sichtbar waren. Denn auf den vorherigen war nur eines zu sehen, und es kam Ceausescu zu Ohren, daß im Volk daraufhin eine alte rumänische Redewendung intensiv wiederbelebt wurde: „a fi intr-o ureche“ (wörtlich übersetzt: „auf einem Ohr sein“) bedeutet: einen Rappel haben, vom blauen Affen gebissen sein. Deshalb mußten die neuen Bilder her. Doch die waren viel größer als die vorherigen - also mußte man im ganzen Land, für alle Institutionen, für alle Räume neue Rahmen und neues Glas kaufen.

Dabei immer wieder die Versuche, mich von dem Bild, das näher und näher rückte, zu entfernen. Durch literarische und durch Theaterarbeit. Durch Literatur und Kunst, die ich den Massenveranstaltungen in den Stadien entgegensetzte. Sich wehren! Als Mindestmaß! Organisierte Opposition war nicht möglich.

Längst schon waren die Demonstrationen vom 1.Mai und 23.August vergessen. Immer häufiger wurden diese Feiertage, vor allem der 1.Mai, „auf Wunsch des Volkes durch Arbeit gefeiert“. Am Vorabend bloß, für alle im Fernsehen sichtbar, die Stadien-Veranstaltungen in den Städten. Und gen Himmel wachsend das Bild des „geliebtesten Sohnes des Vaterlandes“ und seiner Gattin und Kampfgefährtin, der „Wissenschaftlerin ersten Ranges“ Elena C.

Zur Obsession wurde das Bild mir zwar nie, aber das Sich -dagegen-Sträuben wurde zu einem Zustand. Geheimdienstoffiziere, die mich wegen sogenannter „Staatsfeindlicher Tätigkeit“ verhörten und verprügelten, durchbrachen 1984 diesen Zustand - sie intensivierten ihn zugleich.

Mein Staat - ein Bild. Ein Bild mit vielen Rissen. Dahinter wurde und wird ein ganzes Land geknechtet und zerstört.

1987 hatte der rumänische Geheimdienst es dann doch so weit gebracht, daß auch ich den Ausreiseantrag stellen mußte - am 26.Januar, dem Geburtstag des „Conducators“, tat ich es. Das intensive Näherrücken des Bildes und des Namens von Ceaucescu, dessen kalte Hand oft bis ins Bett der Menschen reichte, hatte mir in den Jahren zuvor eine Hauptbeschäftigung aufgezwungen, im Alltag wie auch literarisch: auf Distanz zu gehen. Ein zu dürftiges Anliegen, um Lebensinhalt zu sein. Und als ich Ende Dezember 1987 in Berlin-West ankam, wollte ich mich erst einmal, in einem selbst für mich nicht näher definierbaren Sinne, erholen von der Ceausescu-Diktatur, von dem Bild, das mir den Kopf einzuschlagen drohte.

Doch sehr bald mußte ich einsehen, das ist nicht möglich. Ceausescu erreicht mich auch hier, macht mich auch hier betroffen, dieses Bild kann nicht so einfach aus meinem Kopf verschwinden. Und seine Risse auch nicht.

Ich überdachte mein Verhältnis zur Sprache neu, zur Literatur. Ich schrieb Aufsätze, Gedichte. Und war plötzlich drin, in der Politik. Das Bild, das mein Kopf so einfach nicht verdrängen konnte, hat mich dazu gebracht. Und die Nachrichten von dem sich immer stärker und verheerender verwirklichenden Wahnsinn des Diktators.

So beschäftigte ich mich in letzter Zeit mehr mit dem Ceausescu-Bild als mit Literatur. Nun kann auch ich mit dem Bild umgehen. Auf eine wirksamere Art als in Rumänien. Wenn ich dort dem Personenkult, der Diktatur nur das Geschriebene Wort entgegensetzen konnte - und in den meisten Fällen auch das nicht öffentlich -, so gibt es hier auch andere Mittel. Nicht viele. Aber einige.

Ich habe noch Freunde in Rumänien, Verwandte. Die werden nun, seit ich mich an den Vorbereitungen des Aktionstags Rumänien mitbeteilige, von der Regierung als Geiseln betrachtet. Es ist keine angenehme Situation, in der ich mich befinde. Doch das Bild in meinem Kopf, es siegt. Die Risse, sie siegen. Ceausescu hat dafür gesorgt. Ich hole mir das Bild her, um es loszuwerden. Und noch mehr: am 15.November setze ich es mir auf den Kopf, als Maske. Es ist für mich nicht einfach, diese Rolle zu spielen - die Rolle des Ceausescu im Straßentheater neben der Berliner Gedächtniskirche. Daß er, der Menschenverachtende, dem alles Menschliche so fern liegt, mir so nahe rücken wird, hätte ich nie gedacht. Es ist grotesk.

Noch nie im Leben habe ich eine Rolle gespielt - und sollte ich vielleicht mal wieder spielen, wird es kaum eine Rolle geben, mit der mir die Identifikation so schwer fällt - und sei es nur auf der oberflächlichsten Ebene. Das habe ich bereits gemerkt, als ich „seine“ Sätze auf Band sprechen mußte.

Nein, es ist nicht Haß. Es ist, vielleicht noch schlimmer: Abscheu.

Ich kann nur sagen: Danke - der Regisseurin Freya Klier für den Einfall, eine Ceausescu-Maske dabei zu benützen. Und Danke Reinhard Herz, der die Maske hergestellt und dafür gesorgt hat, daß ich für diese Rolle mein Gesicht nicht hergeben muß.

Helmuth Frauendorfer