BERÜHRUNGSÄNGSTE

■ Die Vorträge der Veranstaltungsreihe „Vor aller Augen“ in der Akademie der Künste

Der Wert eines Gedankens bemißt sich, nach Adorno, an seiner Distanz zu der Kontinuität des Bekannten. Was also bleibt zur „Reichskristallnacht“ noch zu sagen, seitdem sie aus den zahllosen anti-jüdischen NS-Aktionen zur Zentralaktion erkoren wurde, an der sich jetzt das Selbstverständnis der Nation erprobt.

Die Pressestiftung Tagesspiegel beteiligte sich an der Gedenkwoche mit einer Veranstaltungsreihe, in deren Rahmen verschiedene Vorträge zu hören waren. Den Titel der Reihe „Vor aller Augen“ haben die Referenten dann auch tatsächlich beim Wort genommen: Über das, was da vor aller Augen geschah, über die Zerstörung der jüdischen Geschäfte und Synagogen, über die Ermordung von über 100 Juden und die Deportation von weiteren 30.000 wurde en detail berichtet. Dagegen blieb die Frage nach denen, die da zusahen, vor deren Augen sich die von der NS-Propaganda so genannte „Aktion des Volkszorns“ abspielte, weitgehend unbeantwortet. „Ich habe die Leute schweigend stehen sehen. Die Gesichter kann ich nicht interpretieren“, so Herbert A.Strauss, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, der als 20jähriger die „Reichskristallnacht“ in Berlin miterlebte. Und der Schriftsteller Bernt Engelmann sagte: „Ich habe keinen gesehen, der es gebilligt hätte.“

Nun schätzt Engelmann das faschistische Potential der deutschen Bevölkerung „damals wie heute“ als sehr gering ein; in der organisierten deutschen Arbeiterschaft habe es so gut wie keinen Antisemitismus gegeben usw. Fast klang in seinen Äußerungen die These vom verführten Volk an, die den Arbeitern beinahe schon die Rolle der Opfer überstülpt. Wer aber marschierte denn da jährlich beispielsweise auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg auf? Waren das nun die Nazis oder war's die arbeitende Bevölkerung? Die sprachliche Trennung zwischen Nazis einerseits und der Bevölkerung andererseits scheint, auch was die Einschätzung der „Reichskristallnacht“ angeht, eine Entlastungsfunktion zu haben: Mit dem Terminus „Nazi“ ist das Täterbild fest umrissen, mit „Bevölkerung“ ist dann die „weiblich“ verführte Masse der halbwegs Unschuldigen gemeint, die eben was auch sonst - zusah und geschehen ließ.

Nun ist Engelmann, wie er sagte, vor allem interessiert an denen, die das Verbechen geplant haben; insofern mußte übrigens nicht nur bei seinem Vortrag - das „zusehende“ Volk größtenteils außen vor bleiben. Wahrscheinlich ist es aber auch leichter und in gewisser Weise beruhigender, sich mit Planungen und Kontexten auseinanderzusetzen als zum Beispiel mit der Faszinationskraft, die von NS-Aktionen ausging und die vom doch immer wieder durchorganisierten „Volkskörper“ bei Jubelparaden, Aufmärschen usw. selbst unmittelbar reproduziert wurde. Aber auch für den Historiker Hans Mommsen, der mit wissenschaftlicher Schärfe Kontext und Planung der „Reichskristallnacht“ darlegte, war die Frage nach der Bevölkerung selbst ohne Interesse: „Ich betone die Verantwortung der Führungsgruppen, nicht die der kleinen Leute.“ Die sogenannten „Funktionseliten“ - welch ein Wort standen daher im Zentrum seiner Rede, die darauf hinauslief, daß die von NSDAP, SS und SA durchgeführte Aktion in jener Nacht auf „keine Massenakzeptanz“ gestoßen sei. Es kann ja durchaus sein, daß die Leute damals die Methoden, die Zerstörung jüdischen Eigentums abgelehnt haben, nicht aber die Einschränkung des jüdischen Lebensbereichs selbst. Eine solche Einschätzung aber geht vorbei an der Mentalität der Parteimitglieder, an dem Rassereinheits- und Ordnungsfanatismus der Leute damals, die mit den „Aufräumungsarbeiten“ und den Degradierungsritualen, denen man die Juden aussetzte, doch offenbar tief im Einklang standen.

Walter Jens näherte sich in seinem vom ersten bis zum letzten Wort spannenden Vortrag diesen Fragen von einer ganz anderen Seite: Der Nationalsozialismus sei „den alttestamentarischen Befleckungsverboten verpflichtet“ gewesen, die Leute waren den „Seuchensöhnen gegenüber von Berührungsängsten gepeinigt“, weshalb der „Rassenfrage“ eine eschatologische Bedeutung zukam: Die Vernichtung der Juden wurde also nicht nur als End-, sondern zugleich auch als Erlösung gedacht. Gedanken dieser Dimension, die an die Kollektivwünsche der sogenannten „kleinen Leute“ anknüpfen, können, soweit ich sehe, mehr mitteilen über den in Genozid umschlagenden Antisemitismus damals als das bloße Fragen nach den verantwortlichen Planern und dem Versagen der „Funktionseliten“.

Antisemitismus

Die Geschichte des Antisemitismus wurde in dieser Woche immer wieder erzählt. Dazu zwei Gedanken von Detlev Claussen: Es sei gerade die nicht-christliche Judenverfolgung gewesen, die suggerierte, es gäbe eine christliche Lehre, der zufolge die „jüdischen Gottesleugner den Herrn Jesus umgebracht“ hätten. Wer sagt, daß die christliche Lehre Antisemitismus festlege, sage damit zugleich, daß das Bewußtsein den Taten vorausgegangen sei...

Ebenso verhält es sich mit den Rassetheorien des 19.Jahrhunderts, die gleichfalls nur eine Legitimationsideologie geliefert hätten. Antisemitische Statements wie „Die Juden sind unser Unglück“ usw. hat man als „Zauberformeln“ zur vermeintlichen Behebung gesellschaftlicher Leiderfahrungen in Anspruch genommen. Übrigens war Claussen einer der wenigen, die sich dezidiert zur Mentalität des passiven Zuschauers äußerten. Diese passive Unterstützung sei notwendiger Bestandteil der NS -Propaganda gewesen, die vor aller Augen ihre organisierten Aktionen durchführen ließ. Die moderne Gesellschaft produziere diesen Typ des Zuschauers bis heute und zwar Tag für Tag; in der Qualität des gleichgültigen Hinsehens zeige sich die „Kälte des bürgerlichen Subjekts“ (Adorno).

Das leuchtet ein und läßt außerdem Mommsens These verständlicher werden, der zufolge man damals wohl die Zerstörung jüdischen Eigentums mißbilligt habe, nicht aber die damit verbundene totale Entwürdigung der Juden selbst.

Schlußstrich und Versöhnung

Andererseits sollen die beteiligten Zuschauer so kalt und gleichgültig dann doch nicht gewesen sein. Herbert Strauss erklärt sich das jahrzehntelange Schweigen der betroffenen deutschen Generation eben damit, „daß sie ihre Höhenerlebnisse nicht zugeben kann“. Aus Scham über diese jetzt unterdrückte und unpopuläre Wahrheit speist sich dann das, was er „die deutsche Schlußstrich-Mentalität“ nennt. Juden hingegen, die die KZs und Vernichtungslager überlebt haben, würden, kaum daß sie zusammentreffen, spätestens nach einer halben Stunde über ihre Erlebnisse zu sprechen beginnen. Beide Strategien, der „kollektive Wiederholungszwang“, der sich im Immer-wieder-darüber-Reden äußert, wie auch der hier übliche Ruf nach dem Schlußstrich, zielen darauf, der Last des Vergangenen endlich zu entfliehen.

Von diesem Wunsch inspiriert ist auch die „Versöhnungskultur“ (Claussen), die sich in dieser Zeit herausbildet und den Nachkommen der Opfer so etwas wie eine Entschuldigung abverlangt. Dabei handelt es sich wieder einmal um den alten Zwang, den man Juden auferlegt, daß sie sich gesellschaftskonform und den Erwartungen gemäß verhalten sollen.

Tatsächlich zeigt sich, nach Detlev Claussen, „eine Lücke“ zwischen der psychischen Realität der Deutschen und dem demokratischen Herrschaftsstil seit 1945, eine Lücke, die sich verbirgt hinter Formulierungen wie „Ganz unter uns gesagt“ oder „Wenn man mal ganz ehrlich ist“ - eben diese psychische Realität, die Jenninger mal so ganz „offen“ beim Namen genannt hat in seiner Rede. Die offenbar unerträgliche Einsicht, daß schuldig hier nur die eine Seite sein könnte, wird gleichfalls verdrängt mit Sprüchen wie: „Wo Rauch ist, ist auch Feuer“ usw.

Wahrscheinlich hat Stefan Heym in der Diskussionsrunde am 10.November - die sich übrigens durch eine desolate Dialogunfähigkeit auszeichnete - genau diese Ebene gemeint, als er sich über den „Ausbruch“ der Gedenkepidemie wunderte, „wo doch die Leute alle dagegen sind. Sie brauchen doch nur in die Kneipe zu gehen und Sie hören: ‘Wir haben damals noch nicht genug vergast.“

Über diese Diskrepanz, diese „Lücke“ zwischen Gedächtniskultur und der psychischen Realität, die ihr zugrunde liegt und die im Vertraulichen, im kleinen Kreis und in den Kneipen ihre Ressentiments zum Besten gibt, hätte ich gerne mehr gehört in dieser Woche. Wahrscheinlich handelt es sich hier um eine psychische Disposition, die weit mehr verbreitet ist als nur unter den 15 Prozent, die immer noch explizit an antisemitischen Klischees festhalten: am Schreckbild vom Einfluß des internationalen Judentums (früher Weltjudentum) wie auch an der Bauernvorstellung vom gerissenen, geldgierigen Juden (Strauss). Über dieses Thema, das nun wirklich die Gegenwärtigkeit von Geschichte deutlich macht, über die psychische Realität der Leute damals und heute ist in der letzten Woche größtenteils wortreich geschwiegen worden.

Insa Eschebach

Die die Veranstaltungsreihe begleitende und äußerst sehenswerte Ausstellung „Vor aller Augen“ ist noch bis zum 4.Dezember geöffnet. Akademie der Künste, 1-21, Hanseatenweg 10, Di-So 11-19 Uhr, Mo 13-19 Uhr.