Westlich von Mohammed

■ Algerien ist immer noch auf der Suche nach sich selbst / Eine Generation nach der Unabhängigkeit

Walter Seller

Algier gleicht einem nordafrikanischen Einwanderer in Marseille. Die Stadt trägt den leicht aus der Mode gekommenen Anzug einer südeuropäischen Großstadt. Und den Füßen fehlen die Socken.

Klotzige Wohn- und Büroblocks werfen breite Schatten, versperren die Sicht aufs Meer. Wären da nicht die verschleierten Frauen und der Blick auf das kubistische Häusergewirr der Kasbah, könnte man ebenso gut am nördlichen Mittelmeerrand sein. Ist das der Maghreb? Ist das gar Afrika?

Man muß tiefer eindringen in diese Stadt, ihr die schamhaft gehüteten Intimitäten auf langen Fußmärschen entlocken. Und dann wird man - zunächst im Spiegel der Architektur - eine Stadt mit gespaltener Identität finden. Denn die Geschichte der Barbaresken- und Korsarenküste ist eine lange Kette von Eroberung und Widerstand. Phönizier und Römer, Vandalen und Byzantiner, Araber, Mauren und Spanier, Türken und Franzosen haben ihre Spuren und Narben hinterlassen. Römischem, maurischem und osmanischem Erbe steht eine französische Architektur a la Haussmann gegenüber. Nur die an die Hügel geklebte Kasbah, Algiers moribundes Herz, ist purer Maghreb.

„Will man in Algier ins Freie kommen, muß man immerfort hinaufsteigen“, notiert der Schriftsteller Mouloud Mammeri. Die Kasbah folgt, Stufe um Stufe, der Vertikalen, zieht sich, die Rundung der Bucht nachahmend, die Hügel hinauf. „Algier“, schreibt Theophile Gautier und meint die Kasbah, „ist wie ein Garnknäuel, an dem sich zwanzig lebensfrohe Katzen die Krallen gewetzt haben: Die Gassen verflechten, kreuzen, winden sich, führen im Kreis herum und scheinen keinen anderen Zweck zu verfolgen, als die Passanten zu verwirren. Die Adern des menschlichen Körpers bilden kein komplizierteres Netz, jeden Augenblick gerät man in eine Sackgasse, und nur lange Umwege bringen einen zum Ausgangspunkt zurück.“

Ursprünglich war die Kasbah nur Festung der türkischen Deys, jener berüchtigten Korsarenkönige, die das gesamte Mittelmeer in Angst und Schrecken versetzten. Erst später wandelte sie sich zur Altstadt. Am Tage war sie dann Heimat der Handwerker, Domizil des Handels, nachts Refugium der Huren, Trinker und Haschischraucher. Im Algerienkrieg wurde sie Keimzelle des Widerstands, Versteck der Revolutionäre. Von 1956 bis zum Dezember 1960 wurde sie von den Franzosen vollständig abgesperrt. Nur mit einem Sonderausweis konnte man sie verlassen oder betreten.

Und heute? Heute führen in einer vollgepferchten und wie von tausend tollwütigen Katzen zerfetzten und verslumten Kasbah die Kinder Regie. Jeder Hinterhof, jede Treppe ist fest in ihrer Hand. Das Fußballfieber grassiert. Wo der Ball fehlt, tut's auch eine sorgfältig ausgestopfte Plastiktüte. Hoch über den verfallenen Gassen südländische Beflaggung: Wäsche.

„Beim Bau ihrer Kasbah“, schwärmte der französische Architekt Le Corbusier, „haben die Menschen der Vergangenheit ein Meisterwerk der Stadtplanung und Architektur geschaffen.“ Doch die staatliche Restaurierung schleicht in greisenhaftem Tempo. Mors in tabula. Der Patient ist kaum mehr zu retten. Und um der heutigen, mit Menschen vollgepropften Slum-Kasbah orientalische Romantik abzugewinnen, braucht man die Distanz des Europäers. Träume aber vertragen keinen Wechsel des Klimas.

Abgesang aus dem Recorder

„Aman, Aman, Aman“, das elektronische Echo in der Stimme Chab Khaleds vervielfältigt sich noch in den Gassen. Die Klage des Rai-Sängers ist wie ein Abgesang auf die Kasbah, auf das Alte. Rai aber ist das Neue, die moderne Popmusik Algeriens. Entstanden ist der Rai (arabisch: Ratschlag, Meinung) in den Vororten Orans, Algeriens zweitgrößter Stadt. Ganz Nordafrika hat die neue Musik schon erobert. In Europa ist sie eben dabei, sich auszubreiten.

„Der Rai“, so Algeriens erster Kassettenmillionär Chab Khaled, „ist brutaler Ausdruck sozialer Phänomene. Das ist lebendige Musik, die sich an der materiellen und geistigen Situation der Leute orientiert.“ Lebendige Musik ist Rai in der Tat. In provokant-flapsiger Sprache greift er Alltagsprobleme auf: Sex, Religion und No-future. Den staatlichen Kulturbehörden war Rai sogleich ein Dorn im Auge. „Schmutzige Musik für Bars und Kabaretts“, lautete das Urteil. Konzertmöglichkeiten wurden eingeschränkt, und vom Bildschirm blieb der „unalgerische Schmutz“ gänzlich verbannt.

Ein überdeutliches Zeichen, wie wenig der verkrustete Parteiapparat und seine Funktionäre von der Befindlichkeit der eigenen Jugend ahnten oder ahnen wollten. Schließlich waren auch die offiziellen Stellen zu einem Waffenstillstand bereit. Mußte man doch erkennen, daß das Erfolgsgeheimnis des Rai wortwörtlich in der Suche der jungen Generation nach einer eigenen Stimme liegt. Rai als Versuch, eine algerische Identität zu entwickeln. Denn auch heute - mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Kolonialzeit - ist der Maghrebstaat auf der Suche nach seiner Identität.

Suche nach Sprache

„Ich bin in Kairo“, schreibt der algerische Schriftsteller Kateb Yacine zu Beginn des Jahres 1962. „Ein Redakteur der Zeitung 'al Ahram‘ reicht mir eine Zeitschrift: Ein libanesischer Dichter hat es geschafft, mich in meine Muttersprache zu übersetzen, und es gelingt mir kaum, meinen Namen zu entziffern! Die Ahnen verdoppeln die Grausamkeit. Und die berühmten Verse von Ibn Arabi nehmen für mich mitten im Algerienkrieg plötzlich einen unerwarteten Sinn an.

O Wunder! Ein Garten mitten in Flammen, mein Herz ist fähig geworden zu jeglicher Gestalt...

Dieses bittere und bedrohte Erblühen mitten unter Gefahren, dieser Garten mitten in Flammen, das ist wohl die Heimat des algerischen Dichters - doch des in französischer Sprache schreibenden Dichters -, der nur aus der Tiefe des Exils singen kann: im Wolfsrachen.

Am selben Abend, in einem Rauchsalon in Kairo, während ein junger Homer mit bleichem Gesicht und verwüsteten Augen seine Laute brausen ließ, verfaßte ich diesen Vierzeiler, der vielleicht ein Gedicht werden wird:

Also der Vogel blind,

und zweifach gefangen,

dessen Stimme sich formt

im Herzen der Mörder...“

Es ist das schmerzliche Bewußtsein der Entfremdung, das Kateb in dem autobiografischen Fragment Garten mitten in Flammen beschreibt. In Kairo wird ihm die arabische Fassung eines seiner Werke unter die Nase gehalten. Und er, der französisch schreibende Dichter, vermag kaum den eigenen Namen zu entziffern. Die Ahnen verdoppeln die Grausamkeit.

Damals ist man sich wenigstens der Ahnen sicher. War doch die koloniale Eroberung durch die Franzosen mit dem Versuch einhergegangen, den Islam und die arabische Sprache einzudämmen. Die Verteidigung des arabisch-islamischen Erbes wurde so gleichzeitig zur Verteidigung einer nordafrikanischen, einer algerischen Identität. „Wahrlich, Allah verändert nicht die Bedingungen eines Volkes, bis es seine eigenen Bedingungen verändert!“ Dieser Koranvers wurde zur Devise. Und die sprachliche Arabisierung sah man als notwendige Voraussetzung eines gesellschaftlichen und kulturellen Erneuerungsprozesses. Wo sonst, wenn nicht mit der Sprache und in den Köpfen der Menschen, sollte dieser Prozeß beginnen?

Arabien als Identität?

Nach Erlangung der Unabhängigkeit am 1.Juli 1962 aber zerbricht die Arabisierungs-Einheitsfront schnell. Jetzt zeigt das arabisch-islamische Erbe, das „authentisch Algerische“ seinen Januskopf. Erstes Opfer sind die Frauen. Während des Befreiungskrieges waren sie gleichberechtigte Partnerinnen der Männer. Sie haben den Widerstand mitorganisiert, mit der Waffe gekämpft, wurden oftmals gefoltert. Und nun spricht ihnen der Islam die Gleichberechtigung ab. Die Emanzipation während des Krieges soll nur Episode gewesen sein, ihr neues-altes Betätigungsfeld wieder Kinder und Küche heißen. Es gilt aufs Neue, was Isabelle Eberhardt schon 1904 ihrem nordafrikanischen Tagebuch anvertraute: „Die Frau selbst mag alles werden, was sie will. Aber ich habe nie gesehen, daß auch Männer den Wunsch hätten, sie anders zu verändern als im Rahmen der Mode. Eine Sklavin oder ein Idol, das ist es, was sie lieben können - niemals eine Gleiche.“

Auch die frankophonen Autoren geraten schnell in die Schußlinie. In ihrer Verwendung der französischen Sprache sieht man ein fortwährendes Attentat auf die algerische Identität. Es ist bezeichnenderweise Kateb, der sich vehement zur Wehr setzt. Er, der sein eigenes Schreiben aus der Tiefe des inneren Exils begreift, ahnt bereits, für welchen Zielbahnhof die Verfechter einer starren arabischen Hochsprache und islamischen Kultur Karten gelöst haben: Sie reden von Identität und meinen einen rigiden islamischen Akademismus.

Heute stehen sich französisch und arabisch schreibende Schriftsteller unversöhnlich gegenüber. Während die einen nach Norden blicken und Algerien Europa gegenüber offen halten wollen, schauen die anderen in Richtung Osten, nach Kairo und in die arabische Welt. Algerien hat keine hocharabische Tradition, sagen die einen. Algerien ist arabisches Kernland, meinen die anderen. 60 Prozent Berber! Arabisches Kernland!, höhnen die einen. Spätkolonialer Entzweiungsversuch, parieren die anderen.

Nicht zuletzt im Zuge der fundamentalistischen Bewegungen dominieren augenblicklich diejenigen, die ihr „back to the roots“ in einer arabischen Kultur suchen. Ein deutlicher Gradmesser für diese Entwicklung mag die Buchproduktion sein. Waren bis zur Mitte der siebziger Jahre gut zwei Drittel aller in Algerien verlegten Bücher französisch geschrieben, so hat sich das Verhältnis heute beinahe umgekehrt. Frankophone Schreiber, die der arabischsprachigen Literatur einen öden Realismus, ja einen schon lächerlichen Naturalismus vorwerfen, sind mit ihrer Kritik nicht zimperlich. „Die arabischsprachige Literatur ist sehr mies“, faßt Laadi Flici zusammen. „Sie schreiben nur Banalitäten. 'Guten Tag. Guten Abend. Ich esse Couscous.‘ Etc., etc.“ „Und demnächst“, setzt Raschid, ein junger, noch unbekannter Schreiber eins drauf, „wird der Naturalismus noch soweit getrieben, daß man von dem, der einen Kopfschuß beschreibt, verlangt, sich erst einmal selber Blei in den Schädel zu donnern.“

Jugend

Nun, entscheiden wird diesen Streit ohnehin die Jugend Algeriens. Denn die Mehrzahl aller Algerier ist jünger als 20 Jahre. Ob sich die Mehrheit der Jugend an Kairo, Damaskus oder Bagdad oder aber an Marseille und Paris orientieren wird, bleibt - wenn auch vieles für eine westliche Ausrichtung spricht - zunächst einmal abzuwarten. Fest steht aber, daß die beeindruckendsten algerischen Romane beinahe ausnahmslos in französischer Sprache geschrieben wurden. Sei es Rachid Boudjedras Der Pokalsieger (franz. Original: Le Vainqueur de Coupe), in dem die Geschichte des Befreiungswillens des algerischen Volkes wie in einem vielfach gebrochenen Spiegel reflektiert wird - mit Rückblenden, Vorgriffen, Einblendungen, Landschaftstotalen, Porträts, Reportagen, Geräuschkulissen. Sei es Aicha Lemsines Entwicklungsroman Die Entpuppung (franz. Original: La Chrysalide), der die Schwierigkeiten der ersten Generation von Algerierinnen thematisiert, die sich „entpuppen“, emanzipieren wollen. Oder sei es Kateb Yacines erster Roman Nedschma (franz. Original: Nedjma), der 1956 in Paris, „im Wolfsrachen“, „im Herzen der Mörder“ erschien.

Obwohl bereits mehr als dreißig Jahre alt, ist Neschma der modernste algerische Roman, kühner auch als die meisten der heutigen zeitgenössischen Prosawerke. Und zwar diesseits wie jenseits des Mittelmeers. Mit den jüngsten algerischen Ereignissen im Blick hat die Schärfe des Romans mit den Jahren eher zu denn abgenommen.

Doch zunächst einmal hat Nedschma unliebsame Folgen für Kateb: 1957 wird er aus Frankreich ausgewiesen und das Buch von den Kolonialbehörden in Algerien auf den Index gesetzt. Wer darf schon zum Wolf ungestraft sagen: Dein Maul stinkt!

Nedschma (1958 erstmals auf Deutsch bei Suhrkamp verlegt und 1987 wiederaufgelegt) ist ein Meisterwerk der „litterature des colonises“. Ein Zeugnis von Hunger, Elend und Folter, von politischer und sozialer Disintegration der nichtfranzösischen Bevölkerung Algeriens, das durch seine intellektuelle Kühle und Schärfe trifft. Und es ist ein formal ebenso gewagter wie vollendeter Roman. Bilder und Fragmente von Landschaften, Städten, Gassen, Cafes und Gefängnissen, Dialog und innerer Monolog, Reflexion, Erzählung und Tagebuchnotiz, Mythologisches, Historisches und Aktuelles formen eine strenge Zwölfton-Komposition.

Drei der sechs Kapitel sind in zwölf, die restlichen drei in jeweils zweimal zwölf Abschnitte geteilt. Die Strenge der Form, ihr Moralismus, tut Buße für die rauschhafte Leichtigkeit der Erzählweise, bei der alles zufällig scheint und doch nichts zufällig ist. Nicht in chronologischer Ordnung, nicht in horizontaler Reihe fügt Kateb Begebenheit an Begebenheit, sondern akkordisch, vertikal erzählt er, macht das Nacheinander zum Gleichzeitigen. Kateb bricht radikal mit der damals führenden Ästhetik des sozialistischen Realismus. Geschichte hat keine lineare Bewegung. Eher gleicht sie einem Kreis. Und das Erlebnis ihrer Kreisähnlichkeit besteht nicht darin, daß etwa Vergangenes sich wiederholt, sondern in der Gegenwärtigkeit der Umstände, die es wieder herbeiführen.

„Selbst dreißigjährig glaubte“ Raschid, einer der jungen Helden von Nedschma, „Nomade, der er war, nur an den eigenen Schatten, und er dachte, der Überschuß der Jahre werde eines Tages sich aufsaugen ins Leere, werden eindämmen die anschwellende Vergangenheit, als sei ihm bewußt, einen Kreis zu beschreiben, ohne den Ausgangspunkt zu verlassen, der ihm irgendwo zwischen dem Springen des Reifens lag und dem Schweifen rund um den Fels, so daß der Kreis nur ein ungern unternommener Spaziergang war, beinahe ihn zugrunderichtend, und von dem er tastend zurückkam, nicht nur er, heimkehrender Jüngling, nein, sein Schatten auch, zum jammervollen Schreiten der Blinden verurteilt, stolpernd über das fern entlegene Vergangene.“

Ausgangspunkt von Nedschma ist der 8.Mai 1945. Nazi -Deutschland hat kapituliert und in Setif nehmen die vier jungen Helden Raschid, Mustapha, Murad und Lakhdar an einer Großdemonstration teil. Sie fordern die Gleichberechtigung ein, die für das Kriegsende allen Algeriern versprochen wurde. Doch es kommt anders. Ein Provokateur schießt auf die Trikolore. Französische Soldaten feuern in die Menge. 45.000 Algerier finden bei den anschließenden Massakern in Constantine und Umgebung den Tod.

Die Erschossenen sind tatsächlich erschossen, die Erschlagenen wirklich erschlagen. Die Vergangenheit abgeschlossen. Aber die Umstände, die dazu führten, sind noch gegenwärtig. Und so schließt sich der Kreis zwischen Mai 1945 und Oktober 1988 - mögen auch Umfang und Brutalität des damaligen Schlachtens eine ganz andere Dimension gehabt haben -, wenn Mustapha in sein Tagebuch schreibt: „Diesen Herbst werde ich sechzehn Jahre alt. Arbeit und Brot. Das sind meine Jugendträume. Ich werde in eine Hafenstadt gehen.“

Algeriens Stunde Null

Arbeit und Brot, politische Freiheiten und Abbau der Privilegien von Parteibonzen fordern auch 1988 die Menschen. Doch als ihr Protest massiver wird, geschieht das Unfaßbare: Armee- und Polizeieinheiten halten mit Maschinengewehren in die Menge. Es gibt Hunderte von Toten. Und diesmal sind es nicht die verhaßten Kolonialisten, es sind die eigenen Landsleute. Wie konnte es nur dazu kommen?

Mit der Volksbefragung vom 1.Juli 1962, bei der 99,6 Prozent der algerischen Wähler für ein „algerisches Algerien“ stimmen, sind 132 Jahre Kolonialherrschaft und acht Jahre Krieg zu Ende. Der Maghrebstaat ist nun souverän. Die Bilanz aber ist katastrophal: Eineinhalb Millionen Algerier haben mit ihrem Leben bezahlt. Die Volkswirtschaft ist zusammengebrochen. Landwirtschaft, Industrie und Verkehrswesen sind ruiniert. Es gibt kaum Ärzte, Ingenieure und Lehrer. Die Menschen, oft Analphabeten in zwei Sprachen, sind ihrer Lebensweise politisch, ökonomisch, sozial und kulturell entfremdet. Menschen mit beschädigter Identität. Die Kolonialzeit ist vorbei. Doch Algerien muß bei Null beginnen.

Die „Revolution durch das Volk für das Volk“, vertreten von der Einheitspartei FLN (Front de Liberation Nationale), geht einen sozialistischen Entwicklungsweg. Leitbilder des jungen Staates sind die Führer der Dritten Welt: Gamal Abdel Nasser, Jawaharlal Nehru, Fidel Castro und Patrice Lumumba. Ahmend Ben Bella, der erste Präsident, vertritt einen revolutionären Internationalismus und nationalisiert alle Bereiche der Gesellschaft.

1965 putscht sich Huari Boumedienne, Stellvertreter Ben Bellas und Verteidigungsminister, an die Spitze. Er bremst den radikalen Internationalismus und steuert einen mehr realsozialistischen Kurs. Die weitgehende Verstaatlichung aller Unternehmen, der Aufbau einer eigenen Schwerindustrie, die Agrarrevolution der „1.000 sozialistischen Dörfer“, der Ausbau des Erziehungswesens und eine forcierte sprachliche Arabisierung sind sein Werk. Es scheint zunächst, als ginge alles seinen linearen, algerisch-sozialistischen Gang.

Doch der Preis für dieses Programm ist hoch: Die zentralistische Planwirtschaft erweist sich als Wasserkopf. Die Agrarrevolution schleicht in bresthaftem Tempo. Weit mehr als die Hälfte aller Nahrungsmittel muß importiert werden. Landflucht und Bevölkerungswachstum galoppieren um die Wette. Die Städte sind restlos überlastet. Es herrschen Wohnungsnot, drangvolle Enge und Anonymität. Die Arbeitslosigkeit steigt und steigt.

Der zweite Aufstand

Bis zum Tod Boumediennes 1978 ist das Land fest im Würgegriff der allmächtigen „Securite Militaire“. Die offene Austragung innergesellschaftlicher Konflikte unterbleibt. Eine umfassende Perspektivlosigkeit greift um sich. In den Zentren wächst die Opposition. Berbergruppen, die sich der verordneten Arabisierung widersetzen, mehr politische Freiheit und die Anerkennung einer Berberkultur fordern, regen sich. Und auch die fundamentalistische Welle, die die gesamte islamische Welt beunruhigt, erreicht Algerien.

Nach 1979 versucht Chadli Benjedid (arabisch: Sohn der Neuerung) Fehlentwicklungen zu mildern und den Schaden zu begrenzen. Er leitet eine zaghafte Liberalisierung ein und verspricht, die Korruption des Verwaltungsapparates einzudämmen. Doch dann sinken durch einen drastischen Ölpreisverfall die Deviseneinnahmen um 40 Prozent. Die Lage spitzt sich weiter zu.

Als 1981 in Casablanca, 1984 im Rif, der marokkanischen Hanfbauernregion und im gleichen Jahr in Tunis „Brotaufstände“ ausbrechen, bleibt es in Algerien noch ruhig. Anfang Oktober 1988 passiert, was passieren mußte: Das Volk, vor allem die Jugend, erhebt sich gegen Mißwirtschaft und Parteienfilz. Hohe Lebensmittelpreise sind der Funke, der den reichlich gehorteten Sozialsprengstoff explodieren läßt. Grießs, Grundlage des Nationalgerichts Couscous, ist rar, Gemüse teuer, Fleisch unerschwinglich. Der Schwarzhandel treibt üppige Blüten. Ohne „Piston“ (Beziehungen) oder Devisen ist nichts zu haben. Wohnungs oder Jobvergabe und die Zuteilung von Gütern aller Art erfolgt nach den Regeln der „Vetternwirtschaft“.

Das Volk hat es satt, sich für Grundnahrungsmittel ins Schlangenkollektiv vor den Läden zu reihen, während Parteibonzen und Funktionäre im Luxus schwelgen. Und so wird der drückende Sozialkonflikt auf die Straßen getragen. In den Städten brennen ganze Straßenzüge. Viele Kaufhäuser und Läden - vorwiegend staatliche - werden geplündert. „Chadli, unsere Devisen!“, skandiert die Menge. Da ereignet sich das Unglaubliche: Die Regierung läßt auf das Volk schießen. Einzelne Fundamentalisten, Trittbrettfahrer auf dem Sozialprotestzug, erwidern das Feuer. Es gibt Hunderte von Toten. „Chadli, Mörder! Chadli, Mörder!“ Rufe, die dem „Sohn der Neuerung“ noch lange in den Ohren hallen werden.

Väter und Söhne

Als erste reagiert die algerische Botschaft in Paris: Die Unruhen seien ein vom schnellen Bevölkerungswachstum angefachter Genrationenkonflikt. Doch dieser Beschwichtigungsversuch, der wohl alles so darstellen soll, als habe ein ungehorsamer Sohn in unbedachter Minute die Hand gegen den Vater erhoben, zeigt bei näherem Hinsehen erstaunliche Tiefe. Zwei Drittel der heute etwa 23 Millionen Algerier sind jünger als ihr Staat. Und diese Menschen haben einen anderen Vergangenheitsbegriff als die Funktionäre und Kader der FLN. Das Früher ist für sie nicht mehr die französische Kolonialzeit, sondern die Ära einer unumschränkten FLN-Herrschaft. Ihr Protest richtet sich gegen deren verkrustetes System, das sich unfähig erwiesen hat, die gegenwärtige Sozialmisere zu verhindern.

Chadli steht unter Zugzwang. Seine erste Geste ist die Entlassung von Mohamed Cherif Messadia, Ständiger Sekretär des Zentalkomitees der FLN und zweiter Mann im Staate, und General Medjoub Lakehal, Leiter der Sicherheitspolizei. Beide gelten als die Hauptverantwortlichen für den Schießbefehl beim „Brot- und Grießaufstand“. Am 3.November werden dem Volk vorsichtige Reformen wie die Aufwertung des Parlaments zur Abstimmung vorgelegt. 92,7 Prozent der Wähler, bei offiziell etwa 83 Prozent Wahlbeteiligung, stimmen dem Referendum zu und sprechen so Chadli indirekt ihr Vertrauen aus. Weitere Reformen werden angekündigt. Die FLN wird darüber auf ihrem Kongreß der Wahrheit im Dezember befinden. Ein Mehrparteiensystem allerdings wird bereits jetzt ausgeschlossen.

Das Volk ist sich aber über den zukünftigen Weg uneins. Die kabylischen Berber fordern nach wie vor politische und kulturelle Autonomie. Die westlich gebildete Jugend sehnt sich nach bürgerlichen Freiheiten und träumt von einem Mehrparteiensystem. Die fundamentalistischen Kräfte sehen das Heil in der vollständigen Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Ein Staat sucht seine Identität. Und wie in Kateb Yacines Nedschma schließt sich der Kreis: Die erste Szne gleicht der letzten. „Wäre Murad da, so könnte jeder in eine der Himmelsrichtungen gehen. Jeder wüßte genau seine Richtung. Aber Murad ist nicht da. Sie denken an Murad.

-Der mit dem Bart hat mir Geld gegeben, schneidet Lakhdar ab. Teilen wir es.

-Ich gehe nach Constantine, sagt Raschid.

-Also gut'sagt Lakhdar. Ich begleite dich bis Bone. Und du, Mustapha?

-Ich gehe einen anderen Weg.

Die beiden Schatten zerfließen auf der Straße.“