„Wir brauchen den Mut organisierter Gruppen

Rumänien ein Jahr nach dem Kronstadter Aufstand gegen das System Ceausescus / Eine Ingenieurin des Lastwagenkombinats „Steagul Rosu“ zur Zukunft von Protest und Widerstand / „Wir sind keine Polen“  ■  Aus Kronstadt Roland Hofwiler

Noch ist es dunkel. Einzelne Schneeflocken schweben in die vereiste Gasse. Ich traue meinen Augen nicht. Sie sind nicht mehr da. Die sechs Typen mit ihren Bierflaschen, die mein Haustor in der Kronstadter Altstadt seit Tagen belagern. Was führen die jetzt im Schilde oder ist mein Hausarrest gar beendet?

Wann immer ich auch an ihnen vorbeiging, sie boxten mich an, ein, zwei Schläge gab es jedes Mal. Zur Einschüchterung? Kronstadt am ersten Jahrestag der Hungerrevolte. Für jeden Fremden erscheint sie wie eine belagerte Stadt. An jeder Kreuzung paramilitärische Einheiten mit Maschinengewehren. In den letzten Tagen waren sie noch hauptsächlich im Zentrum stationiert, am Dienstag wurden sie ins Industriegebiet verlagert. Nicht das allein macht die Luft so schwer. Man weiß nie, was der Bauer, der einen auf der Straße anquatscht, oder der noble Herr im Cafehaus, der sich an den Tisch setzt und im Siebenbürgerdeutsch über Gott und die Welt redet, wirklich im Schilde führen.

Waren es wirklich nur Halbstarke und keine V-Leute, die sich an mir rächen wollten, weil ich in der „besseren Gesellschaft“ lebe? Nicht in einer Wohnung mit sieben Grad Innentemperatur, wie im Vorort Bajera Bartolomeu, wo die Behörden die Fernheizung einfach nicht einschalteten? Wollten die mich nur erpressen? Sollte ich ihnen etwas Fleisch abtreten, das ich durch Beziehungen erstehen könnte, und das sie im Monat nur ein oder zweimal zu Gesicht bekommen? Im folgenden ein Interview mit einer Ingenieurin G. P. vom Lastwagenkombinat „Steagul Rosu“, einem der zehn größten Betriebe Rumäniens, wo im letzten Jahr die Hungerrevolte ihren Anfang nahm.

taz: Was bedeutet der 15.November für die Rumänen?

G. P.: Für alle Kronstädter ist dieser Tag ein prägendes Ereignis, selbst für Kinder. Einmal kam mein vierjähriger Sohn mit seiner Großmutter am Parteihaus vorbei, das wir ja vor einem Jahr gestürmt hatten, und sagte: „Guck mal Omi, hier legten wir Ceausescu Feuer.“ Mir wird unvergeßlich bleiben, wie zwei Schuljungen aus dem ersten Stock der Parteizentrale herunterriefen: „Seht mal, hier gibt's Schokolade“, und siegesbewußt eine Coca Cola tranken.

Seither weiß jeder im Lande, die Parteibonzen benehmen sich wie die Orwellschen Schweine, während wir nicht einmal Käse und genügend Brot zu essen finden, Schokolade und Cola seit Jahrzehnten nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Ich glaube, jedes Jahr werden die Menschen deshalb des 15.Novembers gedenken.

Kann man das einen Protest nennen, wenn die Parole ausgerufen wird, einfach massenhaft spazieren zu gehen?

Oh, glaube mir, wir würden das Parteihaus gern erneut in Flammen sehen, doch mit Wut allein, das ist klar, kann man keine Politik machen. Die Arbeiter gaben im letzten Jahr ihrer Wut durch willkürliche Störung Luft. Ehrlich gesagt, ich bin froh, daß der erste Jahrestag bisher ohne Gewalt verlief. Von beiden Seiten. Wir müssen lernen, mit Argumenten für Glasnost und Perestroika Politik zu machen.

19.000 Beschäftigte hat allein „Steagul Rosu“, bei „Traktorrul“ arbeiten weitere 8.000 Arbeiter. Fühlen Sie sich nicht als eine politische Macht?

Nein, sie haben keine Führer. Glaube mir, selbst die Geheimpolizei hat die Nase voll. Selbst die würden eine Palastrevolte gegen Ceausescu beginnen, wüßten sie sich zu organisieren. Aber niemand weiß wie. Bei uns sagt man, wir sind groß im Witze reißen, im Fluchen auf den Conducatore, aber wir sind keine Polen. Was die Polen bereits vor zwanzig Jahren erkannt haben, das erkennen wir erst jetzt. Und wie sie seit 1980 für ihre Bürgerrechte kämpfen, das werden wir erst in zwanzig Jahren nachvollziehen.

Eine sehr pessimistische Vorstellung. In Ungarn gründen sich freie Vereinigungen, in der UdSSR formieren sich Bürgerinitiativen ud Volksbewegungen für Perestroika. Schließen Sie eine ähnliche Entwicklung für Rumänien in naher Zukunft aus?

Theoretisch stehen die Vorzeichen günstig, seitdem Gorbatschow auf Veränderungen drängt. Doch praktisch ist es uns selbst verboten, die befreundete Presse der Sowjetunion zu lesen. Der Betriebsrat von „Steagul Rosu“ hat kein Recht, mit sowjetischen Gewerkschaften in einen Meinungsaustausch zu treten. Lese nur die „Neuesten Leitgedanken“ des Genossen Ceausescu in der heutigen Ausgabe der 'Scetaia‘ (Zentralorgan der Rumänischen Partei). Darin erklärt der Führer, die Diktatur des Proletariats sei durch die Partei in Rumänien endgültig überwunden. Mehr Rechte für die Arbeiterklasse, wie dies in den anderen Bruderstaaten diskutiert werde, schmälerten nur den Einfluß der Partei. Und somit den Aufbau des Sozialismus. Sagt das nicht alles?

Wie soll es weitergehen, wie kann sich etwas in Rumänien verändern?

Nur durch den Mut organisierter Bürgergruppen, die für sich das fordern, was zum Alltag in Polen und der Sowjetunion gehört. Ich glaube, ich besitze den Mut, und ich bin nicht die einzige, aber noch weiß ich nicht, wie wir uns zusammenschließen könnten. Natürlich, mit Spazierengehen und Fluchen ist nichts getan. Aber schau nur in die Stadt. Selbst das macht Ceausescu bereits nervös. Sehr nervös. Ich habe gehört, und Betriebsräte in der Fabrik bestätigen das, daß sich seit gestern 20.000 Polizisten mehr als sonst im Einsatz befinden. Vor Kronstadt warten Wasserwerfer und schweres Geschütz. Aber die Jungs dort, die Ceausescu zur Ruhe und Ordnung aus allen Landesteilen herkarren ließ, und in den ...

Abbruch des Telefonanrufs (d. Red.)