Ausflug ins gelobte Land

■ Mit der SEW auf Buß- und Bettag-Tour nach Berlin (Ost)

Grau - alles ist so grau. Einer dieser furchtbaren Novembertage. Vielleicht sollte ich im Bett bleiben, doch der Sozialismus ruft. Am U-Bahnhof Grenzallee war der Treffpunkt für neun Uhr morgens ausgemacht, und wirklich, die knapp 100 Neuköllner SEW-Leute sind abfahrbereit. Es geht nach Berlin (Hauptstadt der DDR) und Potsdam. „Organisation ist alles“, weiß einer der SEW -Bezirksvertreter - und geschickt werden wir an der langen Autoschlange am Grenzübergang Invalidenstraße vorbeigelotst.

Es steigt der 'Wahrheit'-Korrespondent in der DDR, Manfred Erich, zu. Er soll heute den Stadtbilderklärer machen, lobt hier ein wenig die Neubauten, trauert dort ein wenig über die ehemalige Kahlschlagpolitik der SED am Alexanderplatz. Dann ist das erste Reiseziel erreicht: der neu erbaute Thälmann-Park.

„Für uns als Partei in der Nachfolge von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ist es durchaus angemessen, hier einen Kranz niederzulegen, insbesondere da der Thälmann-Mörder von einem BRD-Gericht gerade freigesprochen wurde“, spricht ein SEW -Organisator. Tränen fließen bei den älteren Genossen, und nicht wenige kullern, denn weit über die Hälfte der Reisegruppe ist im Rentenalter, der älteste hat 90 Jahre auf dem Buckel.

Werden hier Erinnerungen an die Kämpfe vergangener Tage, an „Rot Front“ wach? Wie dem auch sei: Es gibt sie noch - die alten Kommunisten, auch wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes vom Aussterben bedroht sind.

Im Bus jedenfalls wird viel über Tod und Krankheit geredet („Irgendwann müssen wir alle mal abtreten“), das allerdings mit eigentümlichem Selbstbewußtsein. Die Alten sind trotzig, ein wenig frech, aber auch melancholisch: „Der hat auch eine Menge mitgemacht“, erinnert sich ein Veteran an das Schicksal eines Genossen während der Nazizeit.

Die jüngeren Organisatoren der Bezirksgruppe aber stiefeln im Thälmann-Park voraus, erklären die Neubaupolitik der SED und zeigen schließlich auf x-stöckige Hochhäuser: „Wir haben 1975 die Bundesrepublik im Wohnungsbau überholt und produzieren jährlich 113.000 neue Wohnungen“, erklärt Korrespondent Erich stolz. Die Gruppe dagegen latscht eine halbe Stunde in dem Wohnkomplex umher, ohne daß die Betonklötze Begeisterungsstürme provozieren.

Darauf zwei Stunden Fahrt zum Mittagessen nach Netzen am See. Ein verschlafenes Schulungs- und Erholungsheim mitten im Nirgendwo bei Potsdam. Dann eilige Abfahrt ins Havelland und nach wiederum einstündigem Busaufenthalt: das größte Apfellager im Obst-Havelland. Leider kommen wir zu spät, und alle Räder stehen sill - da die Betriebszeit es so will. Immerhin liegen überall noch Äpfel herum, und die gesammelte SEW-Gruppe läßt sich nicht von der „Verköstigung“ (SEW-Ton) abhalten.

Die Betriebsleiterin, eine resolute Mitfünfzigerin, erklärt dabei sozialistisches Wirtschaften: „Der Stundenlohn der Arbeiterinnen liegt zwischen fünf und sieben Mark bei einem Arbeitstag von achtdreiviertel Stunden.“ Im riesigen Kühllager werden 24.000 Tonnen Obst aufbewahrt, und die Leiterin macht sich einige Sorgen um die Frischequalität der Früchte. Nach 30 Minuten ist die Visite vorbei.

Wiederum wartet eine „Verköstigung“ im entfernten Netzen auf die Kommunisten, dieses Mal soll's Obstwein sein. Plan oder Übermittlungsfehler - das weiß der SEW-Mann nicht so genau, den leckeren Saft jedenfalls gibt es nicht. Dafür aber reichlich Bier und Schnaps und eine riesige Fleischplatte. Es ist so lecker, daß die Tischgenossen ganz die Politik vergessen.

Kämpfer sitzen hier nicht, sondern unermüdliche Gewerkschaftsmitglieder und Parteiarbeiter, die davon träumen, die SEW über ein Prozent zu bekommen.

Joop Springer